Der Sixtinische Himmel
Fische im Glas. Man kann sie zappeln sehen, aber nicht hören. Die Bourbonen? Julius wird sich in die Engelsburg flüchten vor Angst, geduckt wie eine Ratte. Maestro, seht, meine Hand an Eurer Wange. Wo sind die Finger? Ah, hier. An Eure Wange, so. Wie gerne hätte ich Euch geliebt! Noch so ein Fleck, auf dem Handrücken. Wie eingebrannt. Ihr weint ja, blutige Tränen!
»Warum so traurig?«, flüsterte Aurelio heiser.
Behutsam löste Michelangelo Aurelios Hand von seiner Wange und bettete sie auf das Laken. Anschließend legte er zwei Finger auf die Schwellung an Aurelios Hals. Ein entsetzliches Stöhnen erfüllte die Kammer, das den Gehilfen sich wie eine Schlange windend zurückließ. Michelangelo erhob sich von der Bettkante, ohne den Blick von seinem Geliebten zu nehmen.
»Piero!«
Die Tür zu Aurelios Kammer wurde geöffnet, doch bevor Rosselli eintreten konnte, streckte sich ihm bereits Michelangelos Hand entgegen.
»Nicht!«, rief er.
Rosselli erstarrte.
»Pack deine Sachen«, wies der Bildhauer ihn an. »Du fährst noch heute nach Florenz. Sobald ich entschieden habe, dass du gefahrlos zurückkehren kannst, schreibe ich dir einen Brief, der bei meinem Vater hinterlegt werden wird. Geh hinauf in meine Kammer.« Er zog den mächtigen Schlüsselbund aus dem Umhang, den er über das Fußteil des Bettes gelegt hatte, und warf ihn Rosselli zu. »Unter dem Bett findest du eine Truhe. Der Schlüssel zu ihr ist ebenfalls an dem Ring. Nimm dir ein halbes Dutzend Dukaten und verlasse so schnell wie möglich das Haus.«
»Aber caro fratello , was …«
»Die Bourbonenpest.«
Zweimal setzte Rosselli an, bevor er gefunden hatte, was er sagen wollte: »Es ist zu früh im Jahr für die Pest.«
»Sieh selbst.«
Er nahm eine Kerze und führte sie an Aurelios Gesicht. Die bläulich schimmernden Beulen am Hals waren groß wie Pflaumen.
»Heiliger Sebastian, steh uns bei!«, rief Rosselli den Schutzheiligen gegen die Pest an. »Ich gehe augenblicklich den Pestarzt holen.«
»Du gehst augenblicklich nach Florenz.«
»Aber er muss in ein Spital, in Isolation!«
»Wo sie ihn zur Ader lassen, allen möglichen Unsinn mit ihm anstellen und froh sein werden, wenn er möglichst schnell stirbt. Niemals werde ich das zulassen.«
»Und wer soll sich um ihn kümmern?« Da Michelangelo nicht antwortete, gab sich Rosselli selbst die Antwort. »Das ist Selbstmord«, stellte er fest.
»Das ist Nächstenliebe.«
»Du wirst dich anstecken!«
»Ich sterbe an dem Tag, den Gott dafür vorgesehen hat. Nicht früher und nicht später.«
»Und was ist mit Aurelio? Wird auch er an dem Tag sterben, den Gott dafür vorgesehen hat?«
»Natürlich.«
»Dann bring ihn ins Spital!«
»Niemals!«
* * *
Bis die Glocke der kleinen Kirche an der Piazza Rusticucci mit ihrer dünnen Stimme zur Vigil läutete, waren die Beulen an Aurelios Hals und Leisten zu Faustgröße angewachsen und hatten sich schwarz gefärbt. Das Fieber hatte einen nicht mehr steigerbaren Grad erreicht. Die Schmerzen ebenfalls. In den wenigen Momenten, da Aurelio seinem Fieberwahn entglitt, beschwor er seinen Meister, er möge ihn sich selbst überlassen. Der jedoch machte sich nicht einmal die Mühe, seinem Geliebten zu antworten.
Aurelio würde sterben. Wenn die Beulen einmal diese Größe erreicht hatten, platzten sie innerhalb weniger Stunden nach innen auf und der schwarze Tod überschwemmte den Körper. Danach ging es sehr rasch, einige Stunden, ein Tag vielleicht. Doch Aurelio würde in seinen, Michelangelos Armen sterben. Niemand könnte ihm das nehmen.
»Nur schwach kann ein geteiltes Herze schlagen«, flüsterte der Bildhauer. Seit Stunden saß er auf dem Bett, den Rücken an die kalte Wand gelehnt, Aurelios Kopf auf den Oberschenkeln. »Drum gab ich dir das meine ganz und gar …« Er unterbrach sich, um die schweißverklebten Locken aus Aurelios Stirn zu streichen. »Drum muss ich heiß dich lieben, will ich leben. Denn ich bin Holz nur, du bist Holz, das brennt.«
»Das Gedicht, das Ihr zerrissen habt …«, hauchte Aurelio.
Der Bildhauer beugte sich vor. Aurelios Augäpfel zuckten suchend umher. Michelangelos Tränen versickerten lautlos in seinem Bart. »Schweig.«
»Das war es doch, nicht wahr?«
»Schweig, hab ich gesagt.«
Michelangelo glaubte, sein Gehilfe sei bereits wieder hinabgetaucht in das Reich der Erinnerungen und Visionen, als Aurelio wisperte: »Wie lange muss ich diesen Schmerz noch ertragen?«
Noch mehr lautlose Tränen rannen
Weitere Kostenlose Bücher