Der Sixtinische Himmel
Michelangelos Wangen hinab. Und keine von ihnen brachte Erleichterung. »Nicht mehr lange«, antwortete er.
»Ich hätte Euch so gerne geliebt.«
Michelangelo verbarg sein Gesicht in den Händen. Wie viel Leid konnte eine einzelne Seele ertragen? Wie viel Schmerz hatte Platz in Gottes Gefäß?
Bis die Glocken zu den Laudes riefen, hatte Michelangelo nur noch einen Wunsch: »Bitte, Herr, lasst auch mich sterben, an seiner Seite.«
»Nicht mehr lange …«, wiederholte Aurelio delirierend.
»Schweig, Geliebter«, flehte Michelangelo.
* * *
Seit Stunden gab Aurelio nur noch unartikulierte Laute von sich: ein heiseres Röcheln, das von einem Gurgeln abgelöst wurde, wann immer sich die Lunge mit Flüssigkeit gefüllt hatte. Auf das Röcheln folgte ein Erstickungsanfall, der in ein Husten mündete. Am Ende troff in großen Mengen zähes, gräuliches Sekret von Aurelios ohnmächtigen Mundwinkeln, das Michelangelo in einer Schale auffing. Das Fieber hatte ihn ausgebrannt, sein Herz jedoch schlug weiter in panischem Tempo.
Nachdenklich untersuchte Michelangelo die Pestbeulen. Eine kleine an der Wade, jeweils zwei weitere in den Leisten, am Hals und unter den Achseln. Diese waren so groß, dass sie eigentlich längst hätten aufgeplatzt sein müssen. Sie waren aber nicht aufgeplatzt. Kurz überlegte Michelangelo, ob er dem Rat Rossellis folgen und einen Schnabeldoktor holen sollte. Das allerdings hätte bedeutet, Aurelio alleine zu lassen. Außerdem hatten die Pestärzte mit ihren albernen Schnäbeln und dem gestelzten Gebaren noch keinen Pestkranken je geheilt. Wahrscheinlich wusste Michelangelo mehr über die Natur des menschlichen Körpers als irgendein Arzt in dieser vor Hochstaplern und Scharlatanen wimmelnden Stadt. Schließlich hatte er damals, im Kloster Santo Spirito in Florenz, zahlreiche Leichen seziert, Muskeln, Sehnen, Adern studiert, Herzen, Lungen und Lebern befühlt und ihre Funktionsweise ergründet. Ein flüchtiger Gedanke streifte ihn: Wenn es Gottes Wille war, dass er Aurelio nicht von der Seite wich – war es womöglich auch Gottes Wille, dass er handelte? Er wog den Gedanken so lange ab, bis er sicher war, keine Antwort finden zu können, dann ging er ins Atelier, holte einen Skizzenblock sowie einen Kohlestift, rückte sich den Schemel an Aurelios Bett und leckte den Stift an.
Also: Was wusste er? Michelangelos Hand begann, einen menschlichen Körper zu skizzieren, mit geöffnetem Torso, und Leber, Herz, Milz, Lunge einzuzeichnen. Dazu die Pestbeulen, die sich bei Aurelio herausgebildet hatten. Und nun? Offenbar wusste er nicht so viel, wie er hätte wissen müssen. Als Nächstes: die großen Gefäße, die vom Herz ausgehend den Körper in Bahnen durchzogen und ihn mit Blut versorgten. Er überlegte: Sobald sich die Beulen öffneten und die Pest in den Körper entließen, war der schwarze Tod nicht mehr abzuwenden. Aber wie konnte man ein solches verhindern? Sein Stift zog abwesend die in den Körper eingezeichneten Blutbahnen nach, immer wieder, bis es aussah, als sei der Mensch in einem Knäuel aus Seilen gefangen.
»Nicht nach innen«, überlegte Michelangelo.
Er ließ den Block auf das Bett fallen, studierte die Beulen an Aurelios Hals, als wolle er sie in Marmor meißeln, ging in die Küche und legte den Daumen auf die Klinge des Messers, das Rosselli mit so beharrlicher Regelmäßigkeit beim Scherenmacher schleifen ließ. Es hätte schärfer nicht sein können.
»Piero«, er verdrehte die Augen zum Himmel, »auf dich ist Verlass.«
Es war nicht zu sagen, in welcher Welt Aurelios Blick umherirrte, doch sie musste wenigstens einen Teil von Michelangelos Welt umfassen, denn als sich der Bildhauer mit dem Messer und einem frischen Tuch auf die Bettkante setzte, stöhnte sein Gehilfe: »Nicht das auch noch!«
»Sei unbesorgt«, Michelangelo strich ihm mit einer Zärtlichkeit durchs Haar, die einen Schmetterlingsflügel unbeschadet gelassen hätte, »ich werde nicht dich, sondern nur die Beulen zur Ader lassen.«
Mit diesen Worten führte er eilig das Messer an Aurelios Hals – später würde ihm womöglich der Mut dazu fehlen –, kniff die Augen zusammen und stieß die Spitze in die Beule. Aurelio gab ein unbestimmtes Stöhnen von sich, im selben Moment schoss eine schwärzliche, eitrig durchsetzte Fontäne von seinem Hals auf, die quer über das Bett spritzte und geräuschvoll auf den Boden klatschte.
XLIII
Drei Tage und drei Nächte balancierte Aurelio auf der Schneide
Weitere Kostenlose Bücher