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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
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Schrank Platz für die neuen Laken zu schaffen, legte Granacci väterlich den Arm um Aurelio: »Selbst ein Menschenfeind will geliebt werden …«
    »Was war das?«, tönte es von oben.
    »Nicht alles ist für deine Ohren bestimmt!«, rief Granacci.
    »Dann sollte es auch nicht den Weg dorthin finden!«
    Aurelio, Rosselli und Granacci standen im Vorraum und grinsten sich an wie Schuljungen nach einem geglückten Streich.
    * * *
    Obgleich zwei Tage für seine Erledigungen ausreichend gewesen wären, blieb Granacci eine ganze Woche, bevor er nach Florenz zurückkehrte. Eine Woche, in der sich in Michelangelos Haus eine merkwürdige Veränderung vollzog. Die Schwermut, der Ernst, das Leid der vergangenen Monate – sie wichen einer Sorglosigkeit, wie nur Granacci sie verbreiten konnte. Erinnerungen an die erste Zeit der alten Bottega wurden wach, als alles noch vor ihnen lag, jeder Morgen nach Aufbruch roch und jeder Quadratfuß verputzten Gewölbes eine kleine Eroberung war. Rosselli summte, wenn er in der Küche zugange war, Granacci, der stets nach der neuesten Mode gekleidet war, lief wie ein schillernder Pfau durch das Haus, und selbst Beato, der Fattorino , schien den Besen mit ungewohnter Leichtigkeit zu schwingen.
    Am dritten Tag nach Rossellis und Granaccis Rückkehr nahmen sie die Arbeit in der Kapelle wieder auf. Noch eine Szene aus der Entstehungsgeschichte, die Erschaffung Evas, sowie die entsprechenden Ignudi, dazu die Cumäische Sibylle und der Prophet Ezechiel, und sie wären in der Mitte des Gewölbes angelangt. Halbzeit. Nach zwei Jahren Arbeit.
    Lächerliche vier Giornate nahm die Erschaffung Evas in Anspruch. Michelangelo zeichnete die Kartons morgens, auf der Arbeitsbühne, während Rosselli und Aurelio den Intonaco auftrugen. Es waren flüchtig hingeworfene Skizzen, Umrisslinien, angedeutete Haare, der Sitz eines Auges im Profil. Während Rosselli die sich überlappenden Kartons an die Decke heftete, mit dem Stift die Linien in den Putz durchdrückte und Aurelio die Pigmente und Bindemittel vorbereitete, stromerte Michelangelo auf der Bühne herum wie ein herrenloser Hund.
    Er unterbrach Rosselli jedes Mal, bevor der die Vorzeichnung vollständig übertragen hatte: »Lass gut sein – das reicht.«
    Für die Darstellung Gottes, der die gesamte Bildhöhe beanspruchte und dennoch wirkte, als müsse er den Kopf einziehen, um in den Rahmen zu passen, benötigte Michelangelo lediglich eine einzige Giornata.
    Rosselli nahm Aurelio beiseite: »Sieben Tage hat Gott gebraucht, um die Erde zu erschaffen«, sagte er, wobei er das »I« in »sieben« in die Länge zog, »Michelangelo jedoch benötigt nur einen einzigen, um Gott zu erschaffen … Was sagt uns das?«
    Aurelio hatte nur einen fragenden Blick als Antwort.
    »Ich weiß es auch nicht«, gestand Rosselli, »aber es fällt mir schwer zu glauben, dass es nichts bedeutet.«
    Aurelio wusste, was es bedeutete: Michelangelo malte die Szene wie im Vorübergehen, weil sie ihn nicht interessierte. Wochenlang hatte er seinem Meister Modell gestanden, bevor dieser endlich den Adam gefunden hatte. Für die Eva jedoch musste Aurelio nur einmal kurz auf der Arbeitsbühne die Hände in einer bittenden Geste aufeinanderlegen. Den Rest schöpfte Michelangelo aus seiner Vorstellungskraft. Die Erschaffung Evas vermochte sein Interesse nicht zu wecken. Ganz anders verhielt es sich mit der Erschaffung Aphrodites.
    * * *
    Aurelio wurde unwillkürlich davon ergriffen, sobald er nachts gemeinsam mit Michelangelo dessen geheime Werkstatt aufsuchte. In dem kleinen, unscheinbaren Lagerraum war eine seltsame Kraft gefangen, die niemals schlief und wie ein Tier die Ankunft des Bildhauers ersehnte. Dann wurde sie schlagartig zum Leben erweckt, sprang auf Michelangelo über, dessen Bewegungen plötzlich von einem Knistern begleitet waren, durchströmte Eisen und Schlägel und entlud sich im Marmor. Aurelio meinte, es sehen zu können. Mit jedem Schlag, mit jedem abgeplatzten Marmorbröckchen wurde die Säule von weiterer Energie erfüllt.
    Michelangelo hatte seine Ankündigung in die Tat umgesetzt: Er hatte begonnen, Aphrodite von der Hüfte aus freizulegen. Und so unerhört schnell dieser Tage das Fresko den Himmel der Sistina in Besitz nahm, so quälend zögerlich gab Aphrodite des Nachts ihren Körper preis. Manchmal entfernte Michelangelo bis zum Morgengrauen nur einen oder zwei Fingerbreit des überschüssigen Marmors von ihrer Hüfte, bei anderer Gelegenheit war auf den

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