Der Skorpion von Ipet-Isut
Fluss. Ihre Jubelrufe hallten zu den Schiffen, wie bei einer großen Prozession. Amenemhat schlang die Arme um seine neben ihm stehende Gemahlin.
„Ich hätte nie gedacht, dass Nefertari zu so etwas fähig ist“, sagte er nach einer Weile. Ich habe sie nicht gekannt, Meritamun. Genauso wenig wie meinen Sohn. Ich war blind, absolut blind!“
„Du hast auf das Wohl Kemets geschaut“, erwiderte sie, sich an ihn schmiegend.
Kurz lag der Hauch eines Lächelns auf seinen Lippen. „Erinnerst du dich, wie du mir sagtest, nach Kahoteps Meinung sei ich bereit, alles und jeden für meine Ambitionen zu opfern? Nun… jetzt bin ich auf dem Weg nach Waset um den Thron zu besteigen. Und ich habe mehr geopfert, als mir lieb ist.“ Er holte tief Atem und blickte wieder auf die festliche Menge am Ufer.
Kemars Schritte waren längst verklungen, doch Nefertari hatte noch immer den Eindruck, sie könne das leichte Klacken seiner Ledersandalen hören. Ein unerbittliches Geräusch, wie das stete Tropfen einer Wasseruhr, die an die Vergänglichkeit der Zeit gemahnte. An die Zerbrechlichkeit des Lebens.
Nefertari ballte die Hände zu Fäusten. Kemar war gegangen, um Amenemhat zu töten. Gegangen in der Vorfreude auf etwas, das er schon lange hatte tun wollen. Gegangen, um seinen und ihren Wunsch zu erfüllen! Ein Zittern überlief Nefertari. Der Gedanke an Amenemhats baldiges Ende barg plötzlich keine Freude mehr in sich. Binnen weniger Augenblicke verwandte sich ihr rachelüsterner Traum der vergangenen Tage in einen Alptraum. Ihr Herz raste plötzlich vor Angst, nicht mehr aus Vorfreude. Wütend holte sie aus und schlug die Weinkaraffe vom nahen Tisch. Sie hasste ihr Herz und ihre Gefühle, die sie derart verrieten! Amenemhat hatte sie benutzt und dann weg geworfen wie ein nicht mehr benötigtes Kleidungsstück! Ihr Sohn war tot; es gab nichts mehr, was sie an ihn gebunden hätte! Aber der Zorn legte sich unter einem erneuten Ansturm der Angst. Wo war Kemar unterdessen? Sie sah vor sich, wie der Nubier an einer guten Position Stellung bezog und Amenemhat ins Visier nahm, wenn er von Bord ging oder wenn der Triumphzug begann…
Nein… NEIN!
Sie hatte nicht einmal die Lippen bewegt. Trotzdem beherrschte sie das Gefühl, der Schrei sei im ganzen Palast zu hören gewesen. Sie rannte aus ihrem Gemach. Kemar würde vermutlich auf der Palastmauer in Stellung gehen, sagte sie sich. Jung und alt war unten am Fluss; die Räumlichkeiten waren wie ausgestorben. Perfekt für Kemars Absichten! Nefertari hastete weiter Richtung Galerie.
Debora nahm die Rufe, die Musik und den Weihrauchduft, der vom Ufer her zu ihrem Schiff drang, wie in einem Traum wahr. Fast hatten sie die Anlegestelle unterhalb des Königspalastes erreicht. Die große Delegation aus Ipet-Isut erwartete sie hier, unter der Führung des Zweiten Gottesdieners, wie es der Brauch vorsah. Menkheperre und die übrigen obersten Amtsträger des Amuntempels trugen selbst die Barke mit der goldenen Statue des Gottes auf den Schultern. Rote und weiße Leinenbänder flatterten im Abendwind von den Tragstangen und dem kleinen Schrein auf der Barke. Die übrigen Gottesdiener aus Ipet-Isut hatten sich entlang des Flusses versammelt, die jüngsten voran, gemeinsam mit den Tempelsängerinnen in ihrem festlichen Schmuck.
Die Aufregung, die Debora während der letzten Etappe der Rückreise ergriffen gehabt hatte, war in eine tiefe, wärmende Freude gewachsen. Sie dachte an ihren verbotenen Ausflug nach West-Waset zurück – erst ein Jahr war das her, doch es erschien ihr wie ein Ereignis aus dem Leben einer Fremden. So viel war geschehen; so viele schreckliche, aber auch so wunderbare Dinge! Sie streckte die Hand aus und berührte Amenemhats Arm. Er stand nur einen Schritt hinter ihr, ebenfalls über den Bug des Schiffes hinaus schauend auf die am Ufer Versammelten. Für einen kurzen Moment lagen seine Augen in einem stummen Gruß der Anerkennung auf seinem Freund Menkheperre, dann wanderten sie weiter die festliche Menge entlang. Der Wesir und der Hofstaat waren ins Blickfeld gekommen, alle in ihren Festgewändern mit den kostbarsten Perücken auf dem Haupt, mit Amtsstäben und Bannern in den Händen. Man hatte den Großen Lobpreis auf den siegreichen König angestimmt. Amenemhats Züge waren eine sorgfältig geschulte Maske aus Strenge und Erhabenheit. Aber Debora kannte ihn gut genug, um hinter die Maske schauen zu können. Kurz drückte sie Amenemhats Hand, sich innig
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