Der Skorpion
fesselten, hatten tiefe Einschnitte, Blutergüsse und Striemen an Armen, Brust und Taille hinterlassen.
Irgendwo ächzte ein Ast unter der Schneelast, und Ivor hatte das Gefühl, als würden ihn unsichtbare Augen beobachten.
Nie im Leben hatte er solche Angst gehabt. Noch nicht einmal als Gefangener Crytors.
Wieder wünschte er sich sein Jagdgewehr herbei, bewegte sich langsam rückwärts, schlich verstohlen auf demselben Weg zurück, den er gekommen war, bis er sich, am Bergpfad angekommen, umdrehte und rannte, so schnell ihn seine Beine trugen.
Derjenige, der dieser Frau das angetan hatte, musste das schiere, tödliche Böse selbst sein.
Und es war noch zu spüren.
Detective Selena Alvarez ließ sich auf ihren Schreibtischstuhl fallen. Es war zwar noch nicht mal sieben Uhr morgens, aber sie musste stapelweise Papierkram durcharbeiten, und die ungelösten Fälle der beiden toten Frauen, die im Abstand von fast einem Monat aufgefunden worden waren – aneinandergekoppelte Fälle aufgrund der Tatsache, dass beide Leichen im Schnee zurückgelassen worden waren –, ließen ihre Gedanken nicht los.
Es reichte schon aus, sich diese Leichen vorzustellen – wie sie nackt, an Bäume gefesselt, geknebelt und im Schnee zum Sterben zurückgelassen worden waren –, um ihr das Mark in den Knochen gefrieren zu lassen. In den letzten Jahren waren in Pinewood County und Umgebung nur selten und in großen Zeitabständen Leichen gefunden worden, gewöhnlich als Folge von Jagd-, Angel-, Ski- oder Wanderunfällen. Einmal war ein Jogger von einem Puma beinahe tödlich verletzt worden, und immer mal wieder geriet ein Ehestreit außer Kontrolle, angeheizt durch Alkohol oder Drogen, wozu dann noch eine griffbereite Waffe kam. Aber Mord war in diesem Teil des Landes ungewöhnlich. Mehrfache Morde waren noch seltener. Ein Serienmörder in dieser Gegend? Unerhört.
Doch hier hatten sie wahrhaftig einen.
Sie brauchte sich nur auf ihrem Monitor die Leichen von Theresa Kelper und Nina Salvadore anzusehen, zwei Frauen, die sonst wenige Gemeinsamkeiten hatten, um zu wissen, dass sich ein Psychopath in der Nähe aufhielt oder durchgereist war.
Mit einem Mausklick holte sie die Fotos von der Leiche des ersten Opfers, Theresa Kelper, auf ihren Monitor. Noch ein paar Klicks, der Bildschirm teilte sich und öffnete nun ein Foto vom Führerschein der Frau, ausgestellt von der Kraftfahrzeugbehörde in Idaho, ein Foto von dem Wrack des grünen Ford Eclipse mit der Kennzeichnung
Tatort eins
und eine weitere Aufnahme von einer einzelnen Tanne in einem verschneiten Tal, an deren Stamm die Frau gefesselt war, unterschrieben mit
Tatort zwei.
Das letzte Bild zeigte einen Zettel, der über dem Kopf der Frau an den Stamm genagelt worden war und ihre Initialen aufwies: TK. Sie waren in Blockbuchstaben unter einen Stern geschrieben, der nicht nur auf das weiße Papier gezeichnet, sondern außerdem noch etwa fünfzehn Zentimeter über ihrem Kopf ins Holz geritzt war. Das Labor hatte Blutspuren in der Schnitzerei gefunden, Blutspuren des Opfers.
Alvarez biss die Zähne zusammen und betrachtete die Hinterlassenschaften der Lehrerin aus Boise. Feinde waren nicht bekannt. Sie war seit zwei Jahren verheiratet, hatte keine Kinder, und der Ehemann war am Boden zerstört. Er hatte ausgesagt, sie sei zu Besuch bei ihren Eltern in Whitefish gewesen, was sich als wahr erwies. Die Eltern und der Bruder des Opfers waren außer sich vor Trauer und Schmerz. Der Bruder hatte verlangt, die Polizei solle endlich »das Monster finden, das ihr das angetan hat!«.
»Wir arbeiten daran«, sagte Alvarez zu sich selbst, schlug eine Akte auf und sah sich die Kopie des Zettels noch einmal an.
Ein Stern, ähnlich dem, der über dem Kopf des Opfers in den Baum geritzt worden war, war über den Buchstaben auf das Blatt gezeichnet:
T K
Warum?, überlegte Alvarez. Was wollte der Mörder damit sagen? Das Büro des Sheriffs hatte alle Leute, die sie zuletzt lebend gesehen hatten, überprüft und bisher nichts finden können. Sie hielten den Mord für einen Einzelfall – bis das zweite Opfer unter gleichartigen Umständen gefunden worden war.
Noch einmal betätigte Alvarez ihre Maus, und ein neues Bild erschien auf dem Monitor, dem ersten so zum Verwechseln ähnlich, dass ihr das Blut in den Adern stocken wollte. Eine nackte Frau mit langem dunklem Haar war an den Stamm einer Tanne gebunden. Es handelte sich hier zwar um einen anderen Schauplatz, aber alles
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