Der Skorpion
gepflegt, um sie schlussendlich nackt dem eisigen Wetter auszusetzen? Warum hatte er sie geheilt, nur, um sie dann sterben zu lassen?
Laut Gerichtsmedizin waren beide Frauen nicht sexuell belästigt worden.
Der Fall war sonderbar. Nervenaufreibend. Und Alvarez hatte schon Dutzende von Überstunden mit dem Versuch verbracht, sich in den Mörder hineinzudenken. Ohne Erfolg.
Das FBI war hinzugezogen worden. Agenten aus Salt Lake City waren gekommen und wieder gegangen. Ohne Ergebnis.
Die Kaffeemaschine auf dem Küchentresen gurgelte und spuckte die letzten Tropfen in die Glaskanne, als Joelle Fisher, die Sekretärin und Empfangsdame des Dezernats, hereinwirbelte.
»Oh, du hast schon Kaffee gekocht. Das ist eigentlich mein Job, weißt du«, sagte sie mit ihrem allgegenwärtigen Lächeln. Joelle ging auf die sechzig zu, sah aber zehn Jahre jünger aus. Das Einzige, was dagegen sprach, war ihre Gewohnheit, ihr platinblondes Haar zu einer Frisur zu toupieren, die doch sehr an die Kinoheldinnen der fünfziger Jahre erinnerte. Jedes Mal, wenn sie ihr begegnete, musste Alvarez an die Filme denken, die sie früher gemeinsam mit ihrer Mutter angesehen hatte.
»Ja, ich weiß.«
Joelle verzog das hübsche Gesicht, sammelte rasch ein paar alte Servietten und Rührstäbchen von einem der Tische ein und wischte ihn ab. »Du handelst mir Probleme mit dem Sheriff ein.«
Selena füllte einen Becher mit Kaffee und dachte bei sich, dass es Sheriff Dan Grayson wohl ganz egal sein würde, wer den Kaffee kochte, doch sie behielt ihre Meinung für sich. Joelles selbstgefällige Art in Bezug auf sämtliche Haushaltsfragen störte sie nicht sonderlich. Wenn sie die Küche als ihr kleines Königreich betrachten wollte, bitte schön.
»Hey!« Cort Brewster, der Undersheriff, stapfte, eine Zeitung unter den Arm geklemmt, in die Küche.
»Wie sieht’s aus?«, fragte Alvarez und schenkte ihm einen Hauch von einem Lächeln. Brewster war ein feiner Kerl, glücklich verheiratet, Vater von vier Kindern, aber er hatte etwas an sich, das sie ein bisschen nervös machte. Ein Glitzern in den Augen vielleicht, oder die Tatsache, dass sein Lächeln nicht immer seine Augen erreichte. Vielleicht war sie aber auch übersensibel. Brewster hatte ihr noch nie etwas getan und, soweit sie wusste, auch sonst niemandem in ihrer Abteilung.
»Falls Ihnen der Kaffee nicht schmeckt, tut es mir leid«, sagte Joelle und hob resigniert die Hände. »Er, hm, er lief bereits durch, als ich hier ankam.« Ihre perfekten, zart pink gefärbten Lippen schmollten leicht, und sie zog die Brauen hoch wie eine Schulmeisterin, die den kleinen Timmy zurechtweist, weil er unter dem Tisch mit sich gespielt hat.
»Meine Schuld, wenn der Kaffee wie Spülwasser schmeckt«, gestand Alvarez. »Ich habe ihn gekocht.«
Lachend holte Brewster sich einen Porzellanbecher aus dem Schrank und goss sich Kaffee ein. Verschnupft stolzierte Joelle aus der Küche; empört klapperten ihre High Heels den Flur entlang.
»Sieht aus, als hättest du heute Morgen schon jemandem auf die Zehen getreten«, bemerkte Brewster.
»Wie
jeden
Morgen.« Selena trank einen Schluck Kaffee. »Für die Arbeit hier müsste man eine Gefahrenzulage bekommen.«
»Miau«, machte Brewster leise über seinem Becher.
»Das gehört eben dazu.« Sie zuckte die Achseln und ging wieder zu ihrem Schreibtisch zurück. Ihre Schicht begann zwar erst in einer Dreiviertelstunde, doch ein paar Kollegen von der Nachtschicht unterhielten sich nur noch und packten bereits ein.
Als das Telefon klingelte, setzte sie sich. Sie meldete sich mit einem Brummen.
»Alvarez? Hier ist Peggy Florence aus der Zentrale. Ich habe einen Anruf bekommen, den sollten Sie sich mal anhören.«
Peggys Tonfall ließ ahnen, was kam, und sie wappnete sich.
»Ist gerade erst vor zwei Minuten reingekommen. Von Ivor Hicks. Wenn man ihm glauben kann, gibt es wohl ein neues Opfer.«
»… und heute ist wieder ein typischer Wintertag in Montana mit Minusgraden, vereisten Straßen und einer weiteren Schneesturmwarnung für den Nachmittag.« Der Nachrichtensprecher im Radio klang entschieden zu munter angesichts der Neuigkeiten, die er verbreitete. »Gleich anschließend hören Sie einen ausführlichen Bericht über die Situation auf unseren Straßen und darüber, wo überall wetterbedingt die Schule ausfällt, also bleiben Sie dran, bei KKAR auf siebenundneunzig Komma sechs.«
Als Überleitung erklangen die ersten Töne von »Winter
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