Der Skorpion
erinnerte auf gespenstische Weise an den ersten Fall.
Opfer Nummer zwei war Nina Salvadore, alleinerziehende Mutter und Programmiererin aus Redding, Kalifornien. Auch sie war in einem kleinen Tal mitten in der Wildnis der Bitterroots an einen Baum gefesselt aufgefunden worden. Ihre Leiche befand sich zwei Meilen entfernt von ihrem Fahrzeug, einem Ford Focus, zerschrottet zu einem unförmigen Klumpen aus roter Farbe, Metall und Plastik, der einige Wochen zuvor gefunden worden war.
Der über Salvadores Leiche in den Stamm geritzte Stern fand sich in leicht veränderter Position in Bezug auf ihren Körper, und auch der am Tatort zurückgelassene Zettel sah etwas anders aus. Dieses Mal wies der Bogen Standard-Druckerpapier ebenfalls einen aufgezeichneten Stern, aber andere Buchstaben auf. Wie es aussah, waren die Initialen beider Opfer leicht durcheinandergerüttelt worden:
T SK N
Trieb der Mörder ein Spiel mit ihnen? Wenn er lediglich die Urheberschaft für beide Morde für sich beanspruchen wollte, warum schrieb er dann nicht einfach TKNS in der Reihenfolge der Vor- und Zunamen der Frauen? Warum hatte er die Reihenfolge der Buchstaben umgestellt?
Alvarez kniff die Augen zusammen. Sie war ein Computergenie und hatte bereits verschiedene Entschlüsselungsprogramme durchlaufen lassen, um herauszufinden, ob hinter den vier Buchstaben irgendeine Bedeutung steckte. Bisher ohne Erfolg.
»Mistkerl«, knurrte sie und versuchte, sich vorzustellen, was für ein Ungeheuer etwas so Brutales, Grausames tun und eine Frau im Winter mitten in der Wildnis von Montana auf diese Weise erfrieren lassen konnte.
Die Gespräche mit den Menschen, die Nina Salvadore am nächsten standen, hatten keine zusätzlichen Hinweise gebracht. Sie war auf dem Rückweg nach Kalifornien, wollte sich jedoch vorher mit Freunden in Oregon treffen, und kam aus Helena, Montana, wo sie ihre Schwester besucht hatte. Die Vermisstenanzeige war zuerst in Oregon aufgegeben worden, nachdem sie nicht in der Kleinstadt Seaside eingetroffen und schon vierundzwanzig Stunden überfällig gewesen war. Am selben Tag hatte dann Ninas Schwester in Helena ebenfalls eine Vermisstenanzeige aufgegeben.
Trotz gründlichster Untersuchungen der Fundorte der Leichen und der Autowracks und der Zusammenarbeit mit der Polizei in den jeweiligen Heimatstädten der Frauen konnte das Morddezernat bisher keinen einzigen Verdächtigen vorweisen.
Waren es willkürliche Morde? Oder waren die Opfer ausgesucht und vorher belauert worden? Alvarez nagte an ihrer Unterlippe. Sie fand einfach keine Antworten.
Nachdem sie ein paar Minuten lang auf den Monitor gestarrt hatte, gab sie es auf, verließ ihren Schreibtisch und schritt einen langen Flur entlang. Sie bog nach links und gelangte durch eine Tür in den Frühstücksraum, einen fensterlosen Bereich mit einer kleinen Küche und ein paar Tischen.
Eine Glaskanne mit altem, längst eingedampftem Kaffee stand auf der Wärmeplatte. Reste von der Nachtschicht. Selena entsorgte die dunkle Flüssigkeit samt dem Kaffeepad, um frischen zu bereiten. Sie spülte die Kanne aus, füllte den Wasserbehälter und fand in einer Schublade einen neuen Kaffeepad.
Während die Kaffeemaschine fauchte, tropfte und köchelte, dachte sie über die grotesken Morde nach. Das Labor hatte in den Haaren beider Opfer Spuren von Rinde gefunden. Das Holz entsprach dem der Bäume, an die sie gefesselt waren. Die Blutergüsse und Prellungen an den Leichen stammten unübersehbar von den Fesseln, und beide wiesen Schnittwunden von einem Messer auf, nicht tief, nur ein rascher kleiner Schnitt oder Stich, als hätte derjenige, der sie zum endgültigen Schauplatz ihres Todes schleifte, sie auf diese Weise vorwärtsgetrieben.
Doch andere Verletzungen hatten laut Autopsiebericht angefangen zu verheilen. Es waren Verletzungen, die mit demjenigen übereinstimmten, was ihnen bei ihrem Autounfall zugestoßen sein musste: Mittelhandfrakturen, angebrochene Rippen und in Theresa Kelpers Fall einen gebrochenen Unterarmknochen, in Nina Salvadores ein Schlüsselbeinbruch und ein verrenktes Knie. Wie es aussah, waren die Brüche beider Frauen gerichtet und ihre Schürfwunden behandelt worden. Offenbar war bei Salvadore sogar erst kürzlich eine Wunde an der Wange und eine am Schädel genäht worden, was man daran erkennen konnte, dass das Haar an der betreffenden Stelle abrasiert worden war.
Wo hatte er die Frauen festgehalten?
Und warum?
Warum hatte er sie gewissermaßen fast gesund
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