Der Skorpion
nachdem die Forensiker ihn sich vorgenommen hatten.«
»Ein Versehen des Mörders?«, fragte Chandler.
»Er hat sie vermutlich einfach nicht gefunden. Vielleicht war das Opfer schwer verletzt, und er musste sie schnellstens aus der Kälte schaffen, vielleicht ist er auch gestört worden.«
»Warum befanden sich diese Dokumente unter dem Fahrersitz?« Chandler lehnte sich mit der Hüfte an den Tisch, und der Blick ihrer eisblauen Augen traf Alvarez.
»Sie könnten bei einer Bremsung vor einer Ampel dorthin gerutscht sein, oder die Frau bewahrt sie eben gewohnheitsmäßig dort auf.«
»Oder der Mörder hat sie, ohne es zu bemerken, fallen gelassen, als er das Opfer aus dem Wrack zog?« Chandler stellte Theorien auf. Ihr Gesicht war angespannt, die Rädchen in ihrem Kopf drehten sich fleißig.
»Es ist kein Blut an den Papieren.« Auch Alvarez machte sich Gedanken über den einzigen Unterschied zu den anderen Fällen. »Wir überprüfen sie auf Abdrücke.«
Chandler nickte.
Vielleicht ist sie gar nicht so zickig, dachte Alvarez, wenngleich sie es selbst nicht recht glauben wollte. Sie öffnete den Reißverschluss ihrer Weste, denn es wurde wärmer im Raum. Die Heizung arbeitete auf Hochtouren, blies fauchend heiße Luft in den mit zu vielen Leibern vollgestopften Raum. Die Fensterwand bot einen Ausblick auf den schneebedeckten Parkplatz und eine lange, geräumte Straße. In knapp einer Viertelmeile Entfernung sah man das Landesgefängnis, ein einstöckiges Betongebäude mit Flachdach. Schnee sammelte sich am Fuß des hohen Gefängniszauns an und verfing sich beinahe malerisch in den Natodrahtrollen.
»Okay«, sagte Chandler und stellte sich wieder vor die ausgehängten Informationen. »Also, niemand hat eine Ahnung, was diese Botschaften bedeuten?« Chandler wies auf die Vergrößerungen der Zettel, die an den Tatorten gefunden worden waren.
»Noch nicht«, antwortete Grayson gedehnt. Der Sheriff hatte die Konferenz von seinem Platz an einer Ecke des Tisches aus auf sich wirken lassen, ohne viel beizutragen. Seine Haltung schien auszusagen: Erzählen Sie es uns doch, Miss Allwissend, doch falls er das dachte, behielt er es für sich.
»Merkwürdig erscheint mir, dass der Stern in allen Fällen unterschiedlich positioniert ist. Mit diesen Botschaften nimmt er es so genau; die Buchstaben sind alle gleich groß, perfekte Blockbuchstaben. Der Umstand, dass die Position des Sterns von Fall zu Fall variiert, hat demnach einen Grund. Er will uns etwas sagen.«
»Ich glaube eher, er verspottet uns«, sagte Pescoli.
»Ja, das auch. Er wirkt intelligent und penibel. Wir haben es nicht mit unüberlegten Zufallsmorden zu tun. Er plant das alles bis ins kleinste Detail. Er ist gut durchorganisiert. Hält sich für klüger als uns, und es ist sehr unwahrscheinlich, dass er eine Sache wie die Wagenpapiere übersieht.« Chandler zeigte auf die vergrößerte Botschaft. »Sehen Sie sich die Positionierung der Sterne an. Er hat sie nicht ohne Grund der Botschaft hinzugefügt, und die Positionierung variiert von Fall zu Fall. Ich halte das für bedeutsam.«
Alvarez nickte. Sie war der gleichen Meinung. »Dann versucht er wirklich, uns mit der Buchstabenkombination eine Botschaft zu übermitteln. Er sucht die Frauen nicht nach dem Zufallsprinzip aus.«
»Nein, er geht zielorientiert vor«, sagte Chandler.
Pescoli merkte an: »Aber er vergewaltigt sie nicht.«
Chandlers Blick fuhr zu Pescoli herum. »Eine weitere Anomalie. Viele gut organisierte Serienmörder erregt es, ihre Opfer gefangen zu halten, ihnen näher zu kommen, sie zu quälen und sexuell zu missbrauchen.« Sie rieb sich das Kinn. »Die Möglichkeit einer Mörderin haben wir ausgeschlossen, nicht wahr? Große Schuhabdrücke, großer Kraftaufwand, um die Autowracks aufzubrechen und die Opfer zu verschleppen.«
»Falls es sich um eine Frau handelt, ist sie groß. Und stark.« Pescoli musste ihren Senf dazugeben. »Unsere Opfer, lauter Frauen, sind alle eher zierlich, wiegen zwischen dreiundfünfzig und einundsechzig Kilo. Aber die meisten Serientäter sind Männer.«
»Eine Mörderin halte ich rein gefühlsmäßig nicht für wahrscheinlich«, gab Chandler zu bedenken. »Passt nicht.«
»Finde ich auch«, pflichtete Pescoli ihr bei, und niemand hatte Einwände. Alvarez hörte draußen vor der Tür ein Telefon klingeln und Schritte hallen, als jemand an ihrem Zimmer vorbeieilte.
Chandler fuhr fort: »Wir glauben, dass er um den Zwanzigsten des Monats herum die
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