Der Skorpion
Stöhnen hat wieder aufgehört.
Braves Mädchen. So ist es recht. Sei tapfer.
Beinahe hätte ich die Tür zu ihrem Zimmer geöffnet, doch erneut kann ich widerstehen und gehe zum vereisten Fenster, vor dem ein heftiges Schneegestöber tobt. Die Fenster klappern ein wenig im Wind, doch hier drinnen knackt und tanzt das Feuer.
Obwohl ich nackt bin, nicht einen Faden am Leibe trage, ist mir warm, ich schwitze und bin zufrieden.
Alles läuft nach Plan.
»Und was unternehmen wir jetzt im Fall Jillian Rivers?«, fragte Pescoli am nächsten Tag, als sie und Alvarez im »Java Bean«, Grizzly Falls’ Antwort auf Starbucks, eine Kaffeepause einlegten. Während sie sich aus der Selbstbedienungskanne eine Tasse Kaffee einschenkte und dann ihren Bagel mit doppelt Käse bezahlte, bestellte Alvarez einen »Soja-Chai-Latte«, ein schaumiges, mit Zimt bestreutes Gebräu in einer Tasse von der Größe einer Müslischale.
Sie setzten sich an einen kleinen Tisch am Fenster und blickten hinaus in den immer noch tobenden Sturm. Das Café war beinahe leer, eine Kellnerin servierte den wenigen Kunden, die dem schlechten Wetter getrotzt hatten, heiße Getränke.
»Sie ist alleinstehend, war aber zweimal verheiratet. Der erste Mann ist vor etwa zehn Jahren bei einem Wanderunfall in Surinam ums Leben gekommen. Die Leiche wurde nie gefunden, aber ja, die Versicherung hat gezahlt, und dann hat sie einen Strafverteidiger aus Missoula geheiratet, Mason Rivers, aber die Ehe hat nicht lange gehalten. Sie lebt in Seattle, wo sie Prospekte und dergleichen erstellt, eine Art Ein-Frau-Betrieb. Sie macht die Fotos, die Illustrationen, das Layout und schreibt die Texte. Keine Kinder. Eine Schwester, Dusti Bellamy, die mit ihrem Mann und zwei Kindern in einer deiner Lieblingsstädte wohnt.«
»Welche ist das?«
»San Diego.«
»Ach.« Pescoli grinste. »Und ich hätte auf Phoenix getippt.«
»Jillian Rivers’ Mutter, Linnette White, ist gesund und munter, der Vater ist tot. Linnette wohnt ebenfalls in Seattle, aber nicht bei ihrer Tochter. Jillian lebt allein. Die Polizei von Seattle hat ihre Wohnung versiegelt und durchsucht, bisher jedoch keinen Hinweis auf das Ziel ihrer Fahrt gefunden. Ich habe Mutter und Schwester noch nicht angerufen. Das steht heute Vormittag auf meinem Plan.«
»Du warst schon fleißig«, bemerkte Pescoli und strich mit einem billigen kleinen Plastikmesser Erdnussbutter und Frischkäse auf ihren Bagel.
Alvarez hob ruckartig den Kopf. »Ich habe keine Kinder.«
»Ja. Ich weiß.« Pescoli nickte und strich den überschüssigen Frischkäse auf dem Messer am Tellerrand ab. »Glaub mir, manchmal ist das ein Segen.« Sie biss in ihren Bagel und ließ sich die Geschmacksmischung auf der Zunge zergehen.
Alvarez’ Augen wurden um eine Nuance dunkler, doch der Schatten, sofern er überhaupt existiert hatte, war im nächsten Moment verschwunden. »Du würdest sie doch um nichts in der Welt hergeben.«
»Was nicht heißt, dass sie nicht manchmal schreckliche Nervensägen sein können.«
»Ganz wie die Mutter.«
Pescoli grinste und trank einen großen Schluck von ihrem heißen Kaffee. »Lass sie das nicht wissen. Ich erkläre ihnen lieber, all ihre schlechten Eigenschaften wären genetisch bedingt und kämen nicht aus meiner Familie.«
»Sie sind bestimmt zu schlau, um das zu schlucken.«
Pescoli prustete leise. »Wahrscheinlich.« Sie aß ihren Bagel, und Alvarez trank aus ihrer Riesentasse. Seit drei Jahren waren sie Partnerinnen, seit Alvarez von San Bernadino nach Grizzly Falls gezogen war, und wenn sie einander auch ungefähr so ähnlich waren wie Wasser und Feuer, verstanden sie sich doch gut. Respektierten einander. In Pescolis Augen war Alvarez zu verbissen und sollte häufiger unter Leute gehen. Klar, sie belegte Kurse in allen möglichen Kampfsportarten und gewann Pokale für ihre Fähigkeiten, von Scharf- bis Bogenschießen. Sie hatte auch mal erwähnt, an einem Marathon, dem Bay to Breakers in San Francisco oder sonst einem langen Lauf teilzunehmen, vielleicht sogar an einem Laufevent nach dem anderen, aber Alvarez hatte keine gesellschaftlichen Kontakte. Sie verbrachte ihre Freizeit mit der Nase in Büchern, mit der Hand auf der Maus auf Recherchetour im Internet oder indem sie mit Kursen an Unis und in Sportclubs Geist und Körper in Spitzenform hielt.
Nach Pescolis Meinung sollte Alvarez mal ein paar Margaritas kippen und sich ordentlich durchvögeln lassen. Diese beiden schlichten Vergnügungen
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