Der Skorpion
nicht ausfindig machen würde.
Ausgeschlossen.
Wahrscheinlich war Jillian Rivers, genau wie die anderen Frauen, die im Wald zum Sterben zurückgelassen worden waren, eine mustergültige Staatsbürgerin. Und im Begriff, das nächste Opfer dieses Sadisten zu werden.
Bumm!
Jillian hörte das Geräusch, versuchte, sich aufzurichten, konnte es aber nicht.
Was war das? Schlug da eine Tür?
Verschwommen nahm sie Schmerzen im Bein und an den Rippen wahr. Ach, wie tat das weh.
Sie strengte sich an, trotz der Schmerzen klare Gedanken zu fassen und die Augen zu öffnen. Es gelang ihr nicht.
Wo war sie? Sie hatte einen Autounfall gehabt, ja, … und jemand war gekommen, um ihr zu helfen … Aber sie konnte nicht klar denken, konnte sich nicht sammeln. Aus der Ferne hörte sie ein schrilles Klagen. In ihrer Benommenheit vermutete sie, dass es der Wind wäre. Als ob er durch eine tiefe Schlucht raste.
Aber was war passiert?
Zeit war bedeutungslos geworden. Ihr Leben schien unendlich weit weg zu sein.
Aber sie fror nicht mehr, und wenngleich sie wusste, dass sie endgültig wach werden sollte, hüllte sie die Schwärze, die für wer weiß wie lange Zeit um sie gewesen war, noch immer warm ein.
Und sie gab sich der sanften Verlockung hin. Sie musste schlafen. Genesen.
Mit allem anderen würde sie sich später beschäftigen …
Sie ist wach.
Dessen bin ich mir sicher.
Etwas in der Atmosphäre hat sich verändert. Ihr Stöhnen hat schon vor einer Weile aufgehört, und ich weiß, sie ist wach und hat Angst.
Angst haben sie immer. Aber ich werde sie beruhigen. Ihr Vertrauen gewinnen.
Im Augenblick jedoch muss ich sie noch allein lassen.
Im Dunkeln.
Damit sie lernt, die Isolation zu fürchten.
Wenn ihr bewusst wird, dass ich ihr einziger menschlicher Kontakt bin, bleibt ihr keine andere Wahl, als mir zu vertrauen. Das wird nur ein paar Tage dauern, und in diesen paar Tagen heilen ihre Verletzungen.
Ich widerstehe dem Drang, die Tür zu ihrem Zimmer zu öffnen, hebe das schwere Astronomiebuch auf, das ich versehentlich fallen gelassen habe, und lege es zurück auf meinen Arbeitstisch. Nachdem ich es präzise mit den anderen an einer Ecke des Bretts gestapelten Büchern ausgerichtet habe, richte ich mich auf, strecke mich, und mein Blick fällt auf die Stange am Durchgang zu meinem Schlafbereich. Der glatte Stahl ist ganz oben am Rahmen angebracht. Geräuschlos gehe ich hin, reiche hinauf, greife den kühlen, glatten Stahl und atme tief ein. Dann spanne ich jeden Muskel an, ziehe mich bis auf Gesichtshöhe an der Stange hoch und hebe die Beine im rechten Winkel zu meinem Körper. Diese Position halte ich mehrere endlose Minuten lang, warte, bis die Muskeln zu protestieren beginnen, und dann noch länger. Ich zittere und schwitze bei der Anstrengung, die Position perfekt zu halten.
Erst wenn ich sicher bin, dass ich es keine Sekunde länger aushalte, zähle ich entschlossen bis sechzig und lasse mich auf den Boden herab. Ich wische mir die verschwitzten Handflächen ab, springe noch einmal an die Stange und führe jetzt in rascher Folge einhundert Klimmzüge aus, bevor ich wieder die Beine anhebe, wieder die Position halte, mit ausgestreckten Beinen und Zehen. Meine angespannten Muskeln sind unter straffer Haut zu sehen, mein gesamter Körper zittert vor Anstrengung.
Das ist Teil meiner Lebensweise. Disziplin. Geistige und körperliche Disziplin.
Direkt vor mir sehe ich in einem Spiegel an der gegenüberliegenden Wand mein Bild und vergewissere mich, dass meine Haltung perfekt ist.
Natürlich ist sie es.
Ich höre sie wieder stöhnen, diesmal leiser, und ich lächele, denn bald werde ich die Tür öffnen, sie noch einmal »retten«, sie in den Arm nehmen, sie überzeugen, dass ich alles Menschenmögliche zu ihrem Schutz tun und sie gesund machen werde. Sie wird nach ihren Freunden fragen, nach ihrer Familie, nach Rettungssanitätern und Krankenhäusern und ihrer Rückkehr in die Zivilisation, und ich werde ihr das Fehlen jeglicher Kommunikationsmöglichkeit erklären, aber auch, dass ich Hilfe hole, sobald sich das Unwetter gelegt hat.
Ich muss sie nur noch ein paar Tage lang am Leben erhalten. Und dann, wenn der Sturm vorüber ist und sie wenigstens wieder humpeln kann, treten wir in die nächste Phase ein.
Dann wird sie lernen, was Disziplin ist.
Was Schmerz ist.
Wie der Geist über die Materie triumphiert.
Ich gebe meine Haltung auf und lande geschickt, beinahe geräuschlos auf dem Boden. Das
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