Der Sohn der Kellnerin - Heinzelmann, E: Sohn der Kellnerin
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Sie stand am Fenster und schaute den tanzenden Schneeflocken zu. Es war ein schöner, munterer Tanz. Wenn man lange genug hineinschaute, konnte man fast hypnotisiert werden. Plötzlich schreckte sie aus ihrer Versunkenheit. “Hannah?” Der Ruf war nicht sehr laut. Dennoch, in diese Stille hinein, die sie total umfing, war er wie ein Donnerschlag. Sie drehte sich um und blickte zu Alexander. Dieser saß auf der Couch, seine Füße lagen überkreuzt auf dem Couchtisch. Auf den Oberschenkeln lag aufgeschlagen das Buch Klausurenkurs zum BGB.
*
Hannah lernte Alexander an der Ludwig-Maximilians-Universität in München kennen. Sie beide begannen dort vor knapp zwei Jahren ihr Jurastudium. Er fiel ihr sofort auf. Er war ein gut aussehender, hochgewachsener Mann mit sportlicher Figur. Seine dunkelbraunen Haare trug er kurz geschnitten, seine braunen Augen strahlten Zuversicht und Wärme aus. Sie fühlte sich von ihm angezogen. Ihm schien es mit Hannah, die ihr Haar, das trotz ihrer halbitalienischen Abstammung aschblond war, zu einem Pferdeschwanz gebunden trug, nicht anders ergangen zu sein. Denn es dauerte nicht lange, bis sie sich zusammen eine kleine 35 qm große möblierte Studentenwohnung in Garching nahmen. Hierin Garching waren die Wohnungen nicht so teuer wie in München und trotzdem hatten sie es nicht weit mit Bus und U6 zur Uni in München.
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“Was gibt’s?”, fragte Hannah. Die Frage kam ein bisschen krächzend heraus. Doch das war immer so, wenn sie lange nicht gesprochen hatte. Er lächelte und meinte: “Du stehst nun schon mindestens eine Stunde wie eine Steinsäule am Fenster und starrst hinaus. Ich wollte dich einfach mal aus deinem Grübeln herausholen und fragen, ob du nicht vielleicht Lust auf einen kleinen Snack hättest.” Es war ihr nicht wohl. Sie musste ihm unbedingt etwas sagen, aber es fiel ihr schwer. Alexander sah so zufrieden aus, schien unbeschwert. Fast ein bisschen spitzbübisch wirkte er, wenn er lachte und sich feine Grübchen in die Wangen gruben. Sie liebte ihn über alles. “Na?”, sagte er fordernd, denn er wartete noch immer auf eine Antwort. Sie lächelte, strich sich eine Strähne, die sich aus ihrem Pferdeschwanz löste, hinters Ohr. “Wollen wir ein paar Schritte um den Block gehen? Es gibt nichts Schöneres, als durch den jungfräulichen Schnee zu stapfen”, schlug sie statt einer Antwort auf seine Frage vor. Alexander zog seine Stirn kraus, was wohl andeutete, dass der Vorschlag ihm nicht gerade entgegenkam. “Ich verspreche Dir, wenn wir zurück sind, koche ich uns etwas ganz Feines”, versuchte sie ihn für ihr Ansinnenzu begeistern. “Na ja, etwas frische Luft kann uns ja nicht schaden”, gab er nach und fügte hinzu: “Dann lass es uns hinter uns bringen, denn Du hast mir mit den Aussichten auf ein phantastisches Mahl schon den Mund wässrig gemacht.” Hannah lächelte, “lass dich überraschen.”
Arm in Arm stapften sie durch den Schnee. Ihr Atem bildete kleine Wölkchen in der kalten Luft. Es war zwar erst Nachmittag, aber die schweren Wolken, die den Himmel durchgehend bedeckten, sorgten für eine schummrige Dämmerung. Es war eine ganz besondere Stimmung, die das dämmrige Licht in Verbindung mit dem hell leuchtenden Schnee zauberte. Hannah liebte diese Atmosphäre, schon als Kind. Sobald es schneite, drängte es sie hinaus und sie tanzte mit den Schneeflocken. Hannah schmiegte sich näher an Alexander, der einen Arm um ihre Schulter legte. ‘Wie schmal sie ist’, dachte er, ‘fast ein wenig zerbrechlich’. Ja, man hätte beim Anblick dieser schönen blonden Frau nicht vermutet, dass sie in Wirklichkeit sehr zäh und äußerst willensstark war, die sich, wenn es um für sie wichtige Belange ging, sehr gut durchsetzen konnte. Sie sprachen nicht viel. Jeder hing seinen Gedanken nach. Eigentlich hatte Hannah sich vorgenommen, jetzt mit Alexander zu besprechen, was ihr schon lange auf dem Herzen lag. Doch sie konnte es nicht; noch nicht. Und Alexander machte sich Sorgen, weil seine Freundin seit ein paarTagen sehr bedrückt wirkte. Ihr feines ebenmäßiges Gesicht wirkte ernst, ihre blauen Augen schienen ihm dunkler denn je. Was war nur los mit Hannah? Er hielt sie noch fester umschlossen, als wolle er sie vor allen möglichen Unbilden des Lebens schützen. Nach einer guten halben Stunde kehrten sie wieder nach Hause zurück. Ach wie tat die Wärme drinnen gut.
Hannah machte sich gleich an die Arbeit und Alexander leckte voll Vorfreude, die
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