Der Sohn der Kellnerin - Heinzelmann, E: Sohn der Kellnerin
leicht.’
Wie in Trance stand er auf und ging zu seinem Arbeitstisch. Er wollte an einer Komposition weiterarbeiten, um sich aus diesem Abgrund herauszuholen, um die Stimmen, die in seinem Kopf umherwirbelten, zum Schweigen zu bringen. Doch es wollte ihm nichts gelingen. Er war keines klaren Gedankens fähig. ‘Es ist ganz leicht, ganz leicht … ‘, dachte es immer und immer wieder. Es dröhnte in seinem Kopf. Er holte die Flasche Cognac, die er eben gekauft hatte und füllte ein Glas, das er in einem Zug leerte. Wohl hoffte er, der sonst außer einem Glas Wein zum Essen nie Alkohol trank, sich damit ein wenig betäuben zu können. Er schlummerte ein, wälzte sich unruhig hin und her, bis er nach ein paar Minuten ganz plötzlich wegen eines lauten Geräuschs, das in seinem Kopf stattfand, wieder aufschreckte. Schweißgebadet stand er auf, lief wie im Traum hin und her. Dann schrieb er etwas auf ein Blatt Papier. Es waren nur vier Zeilen und er legte den Stift wieder weg. Er drückte die Hände gegen seine Schläfen. Dann trank er wieder und wieder. Er wollte nur noch schlafen, sich von der barmherzigen Betäubung desSchlafes wegtragen lassen. ‘Folge mir einfach, komm mit mir, es ist ganz leicht’.
Er holte die Tabletten, die Armin ihm auf seinen Wunsch hin wegen seiner Schlafprobleme gab. Er hatte damals nur eine genommen. Er starrte die Tabletten an … ‘es ist ganz leicht, ganz leicht’ … und dann schluckte er alle übrigen neun Tabletten auf einmal. Er trank nochmals von seinem Cognac, die Flasche war nun fast geleert, und er genoss die angenehme schläfrige Schwere, die ihn endlich abtauchen ließ.
Er sah alle, insbesondere die Verstorbenen, die in seinem Leben eine tragende Rolle spielten und ihm etwas bedeuteten. Nathan, Timo und vor allen Dingen Gottlieb, der zeit seines Lebens sein Begleiter war und ihn jetzt anlächelte. Er stand in hellem, strahlendem Licht und streckte Alexander seine Hände entgegen, zog ihn förmlich in seinen Bann. Alexander fühlte sich plötzlich leicht, wie schwerelos und er folgte Gottlieb in dieses unbeschreiblich glanzvolle Licht, begleitet von wunderschönen klaren Tönen. Alles war von diesen Klängen erfüllt. Eine Symphonie eines himmlischen Orchesters. Die vollkommene Harmonie, rein und schön.
Nach langer Zeit seelischen Drucks fühlte er sich endlich gut, fühlte sich getragen von guten Mächten. Weder Gefühle der Bedrücktheit, Düsterkeit noch Niedergeschlagenheit, die ihn so lange quälten, hatten Zutritt hier zu dieser Sphäre zwischen Himmel undErde. Losgelöst von aller irdischen Trübsal gab es nur noch Glückseligkeit. Welch erhabenes Gefühl! Welche Vollkommenheit! Welche Schönheit!
In den Morgenstunden des 2. Juli 2011 starb Alexander, am Todestag seines Vaters, einen Tag vor seinem 21sten Geburtstag und im 220sten Jahr nach Mozarts Tod.
*
Als Alexander am Sonntag nicht zu seiner Geburtstagsfeier erschien, hatte Hannah ein ungutes Gefühl. Er hatte doch gesagt, dass er krank sei. Vielleicht war es doch schlimmer, als er vorgab. Vielleicht brauchte er Hilfe. Sie machte sich Sorgen und zusammen mit Armin ging sie nach München, um ihn in seiner Wohnung aufzusuchen. Die kleine Ute blieb so lange bei Tatjana.
Hannah und Armin fanden Alexander halb liegend auf seinem Sofa mit einem entspannten zufriedenen Lächeln auf dem Gesicht. Und sie entdeckten den Vierzeiler, den er in den letzten Stunden vor seinem Tode auf ein loses Blatt Papier schrieb:
Diesseitig bin ich gar nicht fassbar. Denn ich wohne gerade so gut bei den Toten wie bei den Ungeborenen. Etwas näher dem Herzen der Schöpfung als üblich. Und noch lange nicht nahe genug
.
Es war das aus dem Jahre 1920 stammende Selbstbekenntnis des Expressionisten Paul Klee. Diese Aussage passte auf tragische Weise zum jungen Alexander, der die Welt mit seiner Musik bewegte.
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