Der Sohn des Azteken
ich das auch gestehe, aber manchmal ist die Göttin im wahrsten Sinne des Wortes auf die Nase gefallen. Und sie war schwer! Um sie wieder aufzurichten, mußten wir jeden Mann in der Umgebung, den wir auftreiben konnten, um Hilfe bitten. Ja, so war es, das schwöre ich bei Mictlan.« Onkel Mixtzin erzählte dann, wie schon so manches Mal zuvor: »Ich wäre dem Uey-Tlatoáni Motecuzóma vielleicht nie begegnet, denn seine Palastwachen haben mich festgenommen und beinahe eingesperrt, weil ich in der Stadt einen solchen Schaden angerichtet hatte. Ihr könnt euch vorstellen, als wir ankamen, waren wir alle verdreckt und erschöpft. Unsere Umhänge waren zerrissen und zerfetzt, und wir haben wahrscheinlich wie Barbaren ausgesehen, die aus der Wildnis gekommen sind. Außerdem hatte Tenochtitlan als erste und einzige Stadt, in die wir kamen, schön gepflasterte Straßen und Dämme. Uns ist nicht in den Sinn gekommen, daß das wertvolle Pflaster brechen und zerbröckeln könnte, als wir unseren schweren Mondstein durch die Straßen rollten. Aber es dauerte nicht lange, bis die wütenden Wachen über uns hergefallen sind …« Mixtzin lachte bei der Erinnerung.
Als wir uns Tenochtitlan näherten, erfuhren wir von den Leuten, durch deren Dörfer und Städte wir kamen, einiges Neues, was uns vorbereitete, so daß wir nicht ganz wie dumme Bauern wirken würden, wenn wir unser Ziel erreichten. Zum einen sagte man uns, daß die weißen Männer es nicht gerne hörten, wenn man sie Caxtiltéca nannte. Wir hatten uns in der Annahme geirrt, die beiden Namen, Castellanos und Españoles seien austauschbar. Natürlich lernte ich später, daß die Castellanos alle Españoles waren, aber nicht alle Españoles auch Castellanos. Letztere kamen aus einer bestimmten Provinz von Altspanien, die Kastilien hieß. Wie auch immer, wir drei achteten von nun an darauf, die Weißen als ›Spanier‹ zu bezeichnen und ihre Sprache als ›Spanisch‹. Man riet uns auch, vorsichtig zu sein, um nicht die Aufmerksamkeit eines Spaniers auf uns zu ziehen.
»Lauft nicht einfach durch die Stadt und starrt alles an«, riet ein Mann, der vor kurzem dort gewesen war. »Geht immer schnell, als hättet ihr ein bestimmtes Ziel. Und es ist besser, ständig etwas bei sich zu tragen. Ich meine einen Ziegelstein, vielleicht einen Holzklotz oder eine Rolle Seil, als wäret ihr unterwegs in einem Auftrag, der euch bereits übertragen wurde. Wenn ihr mit leeren Händen auf der Straße seid, wird euch mit Sicherheit ein spanischer Aufseher eine Arbeit zuweisen. Und wenn das geschieht, dann solltet ihr diese Arbeit besser ohne Widerspruch erledigen.«
Auf diese Weise vorgewarnt, setzten wir unsere Reise fort. Beim ersten Anblick aus der Ferne wirkte die Stadt Mexico wahrhaft ehrfurchtgebietend. Sie überragt alles in der Senke, in der sie liegt. Unsere ersten Eindrücke von der Stadt waren jedoch eher enttäuschend. Während wir auf einem breiten, gepflasterten und von Balustraden gesäumten Damm gingen, der die Stadt Tepayáca auf dem Festland mit den Inseln der Stadt Mexico verband, murmelte mein Onkel: »Merkwürdig. Dieser Damm führte früher über einen See, auf dem die flinken Acáltin in allen Größen hin und her fuhren. Aber seht euch das hier an!«
Wir blickten uns schweigend um und sahen unter uns nichts als einen großen, übelriechenden Sumpf voller Schlamm, Unkraut, Fröschen und ein paar Reihern. Es glich den Sümpfen um Aztlan, bevor sie trockengelegt worden waren.
Doch hinter dem Damm lag die Stadt. Obwohl man mich gewarnt hatte, wollte ich nichts anderes tun als das, was ich nicht tun sollte. Die Größe und Pracht der Stadt Mexico überwältigte mich so sehr, daß ich immer wieder wie gebannt vor Bewunderung stehenblieb und mich mit großen Augen umsah. Das geschah an diesem ersten Tag sehr oft. Zum Glück schob mich mein Onkel jedesmal weiter, denn ihn beeindruckte die Stadt nicht sonderlich. Er hatte natürlich das verschwundene Tenochtitlan gesehen und erklärte mir und meiner Mutter die Unterschiede zwischen damals und heute. Ja, mein Onkel kannte sich aus.
»Wir sind jetzt im Ixacuálco-Viertel der Stadt, dem allerbesten Wohnbezirk. Dort lebte mein Freund, der auch Mixtli hieß und der mich überredet hatte, den Mondstein hierher zu bringen. Ich habe ihn während meines Aufenthalts in seinem Haus besucht.« Mein Onkel musterte mit zusammengezogenen Brauen die Umgebung. Dann brummte er: »Sein Haus und die anderen in der Nachbarschaft waren sehr
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