Der Sohn des Azteken
jede Art von Wissen, das ein Schüler vielleicht erwerben mochte.
»Jetzt ist auch die Zeit«, sagte Onkel Mixtzin an meinem dreizehnten Geburtstag, »für dich noch eine andere Art Reife zu feiern. Komm mit, Tenamáxtli!« Er führte mich durch die Straßen zum besten Anyanicáti von Aztlan. Von den zahlreichen Bewohnerinnen wählte er die hübscheste aus – ein Mädchen, das beinahe so jung und so schön war wie seine Tochter Améyatl – und sagte zu ihr: »Dieser junge Mann ist heute zum Mann geworden. Ich möchte, daß du ihm alles zeigst, was ein Mann über das Ahuilnéma wissen sollte. Nimm dir dafür die ganze Nacht Zeit.«
Das Mädchen versprach es ihm lächelnd, und sie löste ihr Versprechen ein. Ich muß gestehen, mir gefielen ihre Aufmerksamkeiten und alles, was wir in jener Nacht taten, und ich war meinem großzügigen Onkel entsprechend dankbar. Doch ich muß hinzufügen, daß ich ohne sein Wissen bereits einige Monate bevor ich das Schamtuch anlegte, einen Vorgeschmack solcher Freuden bekommen hatte.
Jedenfalls wurden in jenen und in den folgenden Jahren weder Aztlan noch die umliegenden Gemeinden, mit denen wir Azteca Handel trieben, von den Caxtiltéca-Streitkräften heimgesucht. Natürlich waren die Gebiete nördlich von Neuspanien im Vergleich zur Mitte des Landes schon immer spärlich bevölkert gewesen. Es hätte mich nicht überrascht, wenn Stämme, die nördlich von unserem Land in noch größerer Abgeschiedenheit lebten, nicht einmal erfahren hätten, daß die EINE WELT überfallen worden war oder daß es so etwas wie weiße Männer gab.
Aztlan und die anderen Gemeinden waren begreiflicherweise erleichtert, daß sie von den Eroberern unbehelligt blieben. Wir stellten jedoch fest, daß die Sicherheit, die wir dank unserer Abgeschiedenheit genossen, auch Nachteile mit sich brachte. Da wir und unsere Nachbarn nicht die Aufmerksamkeit der Caxtiltéca erregen wollten, schickten wir keine unserer Pochtéca, unserer reisenden Fernhändler, ja nicht einmal Boten über die Grenze nach Neuspanien. Das bedeutete, daß wir uns freiwillig vom Handel mit den Gemeinden südlich dieser Linie abschnitten. Früher waren dort die besten Absatzmärkte für unsere selbst erzeugten Waren wie Kokosmilch, Süßigkeiten, alkoholische Getränke, Seife, Perlen und Schwämme gewesen. Und wir hatten Dinge erworben, die es in unserem Land nicht gab, das heißt alle möglichen Güter von Kakaobohnen bis hin zu Baumwolle und selbst Obsidian, den wir für Werkzeuge und Waffen benötigten. Deshalb begannen die Vorsteher mehrerer Gemeinden in unserer Umgebung – Yakóreke, Tépiz, Tecuéxe und andere – unauffällig Spähtrupps nach Süden zu schicken. Dabei handelte es sich um Gruppen von drei unbewaffneten Personen, unter denen sich immer eine Frau befand. Sie trugen schlichte ländliche Kleidung und wirkten wie einfache Leute vom Lande auf dem Weg zu einem harmlosen Familientreffen. Sie hatten nichts bei sich, was die Grenzwachen der Caxtiltéca argwöhnisch gemacht oder ihre Habgier geweckt hätte; üblich war ein Lederbeutel voll Wasser und ein anderer aus Pinóli für die Verpflegung. Die Kundschafter machten sich mit verständlicher Beklommenheit auf den Weg, denn sie wußten nicht, welche Gefahren unterwegs auf sie warten würden. Aber sie waren auch neugierig, denn sie hatten den Auftrag, ihren Häuptlingen zu berichten, was sie vom Leben im Inland, in den kleinen und großen Städten und vor allem in der Stadt Mexico erfuhren, die inzwischen alle unter der Herrschaft der Weißen standen. Von solchen Berichten hingen die Entscheidungen unseres Volkes ab. Sollten wir uns in der Hoffnung auf die Wiederaufnahme des normalen Handels und gesellschaftlicher Kontakte an die Eroberer wenden und uns mit ihnen verbünden, oder sollten wir uns von ihnen fernhalten und unauffällig und unabhängig bleiben, selbst wenn wir dadurch ärmer wurden? Oder sollten wir uns auf den Aufbau starker Streitkräfte konzentrieren, uneinnehmbare Verteidigungsanlagen errichten, Waffenarsenale anlegen und um unser Land kämpfen, wenn die Caxtiltéca eines Tages tatsächlich kamen?
Im Laufe der Zeit kehrten beinahe alle Kundschafter unbehelligt von irgendwelchen Zwischenfällen zurück. Nur ein oder zwei Gruppen hatten einen Grenzposten zu Gesicht bekommen. Abgesehen davon, daß die Kundschafter beim ersten Anblick eines weißen Mannes vor Ehrfurcht erstarrt waren, wußten sie von ihrem Grenzübergang nichts Besonderes zu berichten. Die
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