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Der Sohn des Azteken

Der Sohn des Azteken

Titel: Der Sohn des Azteken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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Fackel an den Holzstoß zu Füßen des Verurteilten.
    Es ist allgemein bekannt, daß es den Göttern und Göttinnen ein großes Vergnügen bereitet, uns Sterbliche zu verwirren. Sie durchkreuzen immer wieder unsere besten Absichten, komplizieren unsere einfachsten Pläne und vereiteln selbst unbedeutendes Streben. Oft gelingt ihnen das ohne jede Mühe, indem sie sich Dinge ausdenken, die scheinbar zufällig geschehen. Hätte ich es nicht besser gewußt, würde ich mir gesagt haben, daß nur ein Zufall uns drei – meinen Onkel Mixtzin, seine Schwester Cuicáni und mich, ihren Sohn Tenamáxtli – an jenem bestimmten Tag in diese Stadt Mexicos geführt hatte. Natürlich war es kein Zufall, aber das sollte ich erst sehr viel später begreifen.
    Zwölf Jahre waren vergangen, seit wir in unserer Stadt Aztlan, der Heimat der Schneereiher, die weit im Nordwesten an der Küste des Westmeeres liegt, zum ersten Mal eine wirklich aufsehenerregende Nachricht gehört hatten. Fremde mit blasser Haut und dichten Bärten waren in der EINEN WELT erschienen. Es hieß, sie seien in großen Häusern, die auf dem Wasser schwammen und ähnlich wie Vögel von gewaltigen Schwingen vorwärtsbewegt wurden, über das Ostmeer gekommen.
    Ich war damals erst sechs Jahre alt und mußte noch ganze sieben Jahre warten, bevor ich unter dem Mantel das Máxtlatl-Schamtuch tragen durfte, das Zeichen des erwachsenen Mannes. Deshalb war ich zu dieser Zeit ein völlig unbedeutender Mensch ohne jede Wichtigkeit. Doch ich besaß eine beachtliche frühreife Neugier und hatte gute Ohren. Außerdem lebten meine Mutter Cuicáni und ich zusammen mit meinem Onkel Mixtzin, seinem Sohn Yeyac und seiner Tochter Améyatl im Palast von Aztlan. So entging mir keine der eintreffenden Nachrichten, und ich hörte mir aufmerksam die Reaktionen an, die sie in der Ratsversammlung meines Onkels hervorriefen.
    Die Endung -tzin, die dem Namen meines Onkels hinzugefügt ist, verrät seine Stellung als ein Edelmann unseres Volkes. Er war der höchste Adlige unter uns Azteca und der Uey-Tecutli, der Ehrwürdige Statthalter, von Aztlan. Als ich gerade laufen lernte, hatte der damalige Uey-Tlatoáni Motecuzóma, der Ehrwürdige Sprecher der Mexica, der mächtigsten Nation der EINEN WELT, unserem damals kleinen Dorf den Status einer autonomen Kolonie der Mexica verliehen. Er machte meinen Onkel Mixtli zu einem Edelmann, zum Herrn Mixtzin, übertrug ihm die Herrschaft über Aztlan und befahl ihm, es zu einer wohlhabenden und menschenreichen, zivilisierten Kolonie zu machen, auf die jeder Mexica stolz sein konnte. Deshalb brachten Motecuzómas Boten regelmäßig alle Nachrichten, die für seine Statthalter von Interesse sein mochten, nicht nur in die anderen Kolonien, sondern auch in den Palast von Aztlan, obwohl wir sehr weit von der Hauptstadt Tenochtitlan, dem Herzen der EINEN WELT, entfernt waren. Natürlich war die Nachricht von jenen rätselhaften Eindringlingen vom anderen Ufer des Meeres keineswegs etwas Alltägliches. Sie rief in der Ratsversammlung von Aztlan Bestürzung und viele Spekulationen hervor.
    »In den Annalen verschiedener Völker unserer EINEN WELT«, erklärte Canaútli, unser Geschichtserinnerer, der ein Großvater meines Onkels und meiner Mutter war, »ist verzeichnet, daß Quetzalcóatl, die Gefiederte Schlange, der ehemals größte aller Herrscher, der Herr der Toltéca, der später als der höchste Gott verehrt wurde, eine eher weiße Hautfarbe und ein bärtiges Gesicht hatte.«
    »Wollt Ihr damit andeuten …?« unterbrach ein anderes Ratsmitglied, ein Priester unseres Kriegsgottes Huitzilopochtli, meinen Urgroßvater. Doch Canaútli beachtete ihn nicht. Das hätte ich dem Priester vorher sagen können, denn ich wußte sehr gut, wie gerne mein Urgroßvater redete.
    »Es ist auch verzeichnet, daß Quetzalcóatl die Herrschaft über die Toltéca niederlegte, weil er einen Frevel begangen hatte. Sein Volk hätte vielleicht nie etwas davon erfahren, doch er gestand das Vergehen ein. Er hatte einmal zuviel Octli getrunken und im Rausch mit seiner eigenen Schwester den Akt der Ahuilnéma vollzogen. Die Toltéca verehrten Gefiederte Schlange so sehr, daß sie ihm den Fehltritt zweifellos verziehen hätten, doch er selbst konnte sich nicht verzeihen.«
    Mehrere Räte nickten ernst. Canaútli fuhr fort:
    »Das ist der Grund, weshalb er am Strand ein Floß baute – manche sagen, es habe aus Federn bestanden, die irgendwie zu Filz verarbeitet worden waren; andere

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