Der Sohn des Azteken
Lektion für uns gedacht war, der wir gezwungenermaßen zusahen, dann hätten wir sehr schnell genug davon gehabt. Vor allem deshalb, weil jeder von uns wußte, daß Juan Damasceno nicht für einen guten Zweck starb. Sein Herz und sein Blut nährten keinen Gott, weder einen der unseren noch den der Christen. Doch die Soldaten ließen uns nicht gehen, solange die Priester nicht gingen. Und sie blieben auf der Tribüne, bis von ihrem Opfer wenig mehr als Rauch und Gestank übriggeblieben war. Sie beobachteten die Hinrichtung mit dem strengen Gesichtsausdruck wie bei einer unangenehmen, aber zu erfüllenden Pflicht. Jeder Priester, gleich welcher Religion, kann diese Fassade der Rechtschaffenheit überzeugend zur Schau tragen. Doch die Augen straften ihre Gesichter Lügen. Die Augen der Priester glänzten. In ihnen spiegelte sich die Freude der Genugtuung und der Zustimmung zu dem, was sie sahen. Die Augen beinahe aller, sollte ich der Wahrheit zuliebe sagen. Die Augen des jungen Priesters, der die Rede des Oberpriesters ins Náhuatl übersetzt hatte, verrieten etwas anderes.
Er machte kein strenges, sondern ein trauriges Gesicht, und sein Blick war nicht hämisch, sondern mitfühlend. Als die anderen Priester endlich die Tribüne verließen und uns die Soldaten befahlen, den Platz zu räumen, blieb der junge Priester zurück.
Er stand vor der Kette, die am Pfahl hing und deren Glieder noch glühten, und blickte traurig auf die wenigen Überreste dessen, den die Kette gefesselt hatte. Alle anderen, auch meine Mutter und mein Onkel, beeilten sich, den Platz zu verlassen. Aber ich blieb ebenfalls zurück. Ich näherte mich dem Priester und sprach ihn in der Sprache an, die wir beide beherrschten. »Tlamacázqui«, sagte ich ehrerbietig, doch er hob abwehrend die Hand. »Priester? Ich bin kein Priester. Ich kann einen rufen, wenn du mir sagst, weshalb du einen Priester sprechen willst.«
»Ich wollte mit Euch sprechen«, erwiderte ich. »Ich beherrsche das Spanisch der anderen Priester nicht.«
»Und ich wiederhole, ich bin kein Priester. Manchmal bin ich froh darüber. Ich bin nur Alonso de Molina, der Notarius des Herrn Bischofs Zumárraga. Weil ich mir die Mühe gemacht habe, deine Sprache zu lernen, bin ich auch der Dolmetscher Seiner Exzellenz für unsere und eure Leute.«
Ich hatte keine Ahnung, was ein Notarius sein mochte, doch der Mann schien umgänglich zu sein, und im Gegensatz zu den anderen hatte er während der Hinrichtung menschliches Mitgefühl gezeigt. Deshalb sprach ich ihn jetzt mit dem ehrenvollen Namen an, der mehr bedeutet als Freund, nämlich ›Bruder‹ oder sogar ›Zwilling‹.
»Cuati Alonso«, sagte ich. »Ich heiße Tenamáxtli. Ich und ein paar Verwandte sind gerade von weit her gekommen, um Eure Stadt Mexico zum ersten Mal zu bewundern. Wir hatten nicht erwartet, daß uns Besuchern eine … eine öffentliche Unterhaltung geboten werden würde. Ich habe nur eine Frage. Trotz Eurer hervorragenden Übersetzung konnte ich in meiner ländlichen Unwissenheit nicht alle diese rechtskundlich klingenden Begriffe verstehen. Würdet ihr mir den Gefallen tun und mir in einfachen Worten erklären, was man dem Mann vorgeworfen und warum man ihn verbrannt hat?«
Der Notarius musterte mich einen Augenblick und fragte dann: »Bist du kein Christ?«
»Nein, Cuati Alonso. Ich habe von Crixtanóyotl gehört, aber ich weiß nichts über diese Religion.«
»Nun ja …«, er zögerte. »Deinem Wunsch zufolge in einfachen Worten ausgedrückt, kann man sagen, Don Juan Damasceno wurde für schuldig befunden, den Anschein erweckt zu haben, er sei zum christlichen Glauben übergetreten, während er in Wirklichkeit ein Ungläubiger blieb. Er hat sich geweigert, das zu gestehen und seiner alten Religion abzuschwören. Deshalb wurde er zum Tode verurteilt.«
»Ich fange an zu verstehen. Vielen Dank, Cuati. Ein Mann hat also die Wahl, den christlichen Glauben anzunehmen oder getötet zu werden?«
»Nein, nein, ganz so ist es nicht, Tenamáxtli. Aber wenn er einmal Christ geworden ist, muß er es bleiben.«
»Oder euer Gericht verurteilt ihn zum Flammentod.«
»Auch das ist nicht ganz richtig«, erklärte der Notarius stirnrunzelnd. »Die weltlichen Gerichte können für unterschiedliche Vergehen unterschiedliche Strafen verhängen. Wenn sie jemanden zum Tode verurteilen, gibt es mehrere Möglichkeiten – die Kugel, das Schwert, das Beil des Henkers oder …«
»Oder die grausamste Methode von allen«,
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