Der Sohn des Sehers 01 - Nomade
bisher zu sehr verwöhnt. Vielleicht war es doch ein Fehler, den Jungen alleine in diese Schlucht zu schicken. »Hirth wird ihn schon beschützen«, murmelte Elwah.
Plötzlich hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden, und ein paar kleine Steine sprangen hinter ihm die Felsen herab. Er drehte sich um und suchte mit gerunzelter Stirn die steile Wand ab. Aber da war nur der nackte Fels, in den sich hier und dort ein grauer Busch gekrallt hatte. Vielleicht ein Murmeltier? Er zuckte mit den Achseln und folgte seiner Herde hinab in die Talsohle. Noch einmal blickte er zurück, aber sein Jüngster war schon in der dunklen Schlucht verschwunden.
Nach dem Essen lagerten Elwah und seine Söhne unweit der kleinen Wasserstelle am Feuer. Ihre Tiere waren müde und ließen die Köpfe hängen. Sie würden ihnen heute Nacht keine Schwierigkeiten bereiten. Das Wetter war heiß und trocken. Es war beinahe Mittsommer, aber die Nacht versprach Abkühlung. Elwah fand dennoch keine Ruhe.
»Lewe hat es nicht zum Abendessen geschafft, Baba«, sagte Calwah, sein Ältester.
»Ich habe ihm gesagt, dass er dort bleiben soll, wenn es spät wird.«
»In der Schlucht? Allein in der Dunkelheit? Ohne Essen?«, fragte Enyak, der Zweitgeborene.
»Es war klar, dass du zuerst ans Essen denkst«, stichelte Anak, der dritte von Elwahs Söhnen.
Sie lachten über den harmlosen Scherz, aber es war ein sehr verhaltenes Lachen.
»Es ist kalt und dunkel dort, Baba«, meinte Calwah besorgt.
»Die Nacht ist kurz, und der Junge versteht es, mit dem Feuerstein umzugehen«, brummte Elwah, der gerade das Gleiche gedacht hatte. Lewe war kein kleines Kind mehr. Das Leben im Staubland war hart. Die Kinder der Hakul lernten früh, auf sich selbst aufzupassen. Lernten sie es nicht, dann … Elwah dachte den Gedanken lieber nicht zu Ende.
»Aber was, wenn es dort oben Wölfe gibt?«, fragte Sweru.
Elwah runzelte missbilligend die Stirn. »Wölfe? In den Schwarzen Bergen? Hast du hier schon einmal einen Wolf gesehen?«
»Nein, aber es gibt doch überall Wölfe«, entgegnete Sweru.
Elwah seufzte. Sweru war im letzen Winter zum ersten Mal mit auf den Beutezug der Männer gegangen. Unglaublich, wie schnell der Knabe erwachsen geworden war. Aber wusste er so wenig über sein Volk, dass er glaubte, hier gäbe es Wölfe? Er
fasste ihn genauer ins Auge und entdeckte die gespannte Erwartung im Blick seines Sohnes. Darum ging es also, er wollte eine Geschichte hören. Elwah beschloss, sich darauf einzulassen. Vielleicht würde ihn das ablenken von den Gedanken, die er sich um seinen Jüngsten machte. »Wisst ihr nicht, warum die Wölfe nicht in dieses Tal und auch in kein anderes der Schwarzen Berge kommen?«, fragte er. Irgendwo im Tal rollten Steine einen Hang hinunter. Elwah lauschte, denn er dachte, es sei vielleicht Lewe mit dem Lamm. Aber dem ersten Steinschlag folgte kein zweiter.
»Nein, Baba«, antworteten seine Söhne im Chor.
Elwah blickte von einem zum anderen. Calwah hatte selbst schon zwei Kinder, er sollte eigentlich wissen, dass ein Vater seine Sprösslinge immer durchschaut. »Nun, meine Söhne, offensichtlich haben eure Mutter und ich vieles versäumt. Sollte es wirklich so sein, dass ihr diese Geschichte - die wichtigste der Hakul - nicht kennt?«
»Welche Geschichte, Baba?«
Also begann Elwah die alte Geschichte zu erzählen. Sie führte sie von ihrem kleinen Feuer weit zurück in die dunkle Vergangenheit, in der die Hakul noch nicht der Schrecken ihrer Nachbarn gewesen waren, sondern schwach und voller Furcht. »Ein armes Volk waren wir, das Schafe über die staubige Ebene trieb«, erzählte Elwah, »und es war schwer zu sagen, ob wir über das Land zogen - oder flohen. Aus dem Norden drängten die Akradai in unser Land. Sie vertrieben uns von unseren angestammten Weiden, errichteten Dörfer und wühlten die Erde für ihre Felder um. Aus dem Südosten kamen die Viramatai, die Männertöterinnen, mit ihren Streitwagen. Sie verschleppten die Männer für ihre Bergwerke und andere Sklavenarbeit. Aus dem Südwesten zogen die Romadh immer wieder über die Wüste Dhaud. Sie raubten unser Vieh, verschleppten die Mädchen und Kinder und machten sie zu Sklaven.
Am fürchterlichsten aber war das Übel, das uns hier im Westen am Rande der Wüste bedrohte - Xlifara Slahan, die gefallene Göttin! Sie schlich im Schutz der verfluchten Winde rastlos um unsere Zelte und raubte Kinder, Frauen, sogar Männer aus unserer Mitte. Ihre Opfer fand man oft
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