Der Sohn des Sehers 01 - Nomade
genommen, denn die Seher verlangten es. Und seit Etys mit dem Lichtstein im Schoße des Berggottes Kalmon ruhte, war die Menschendiebin nicht mehr bei den Zelten der Hakul gesehen worden. Elwah seufzte, und dann mahnte er Anak, der die erste Wache übernehmen sollte, nicht wieder einzuschlafen.
Anak nickte verdrossen. Er war nur ein einziges Mal auf Wache eingeschlafen, und das war beinahe drei Jahre her, auf seinem allerersten Kriegszug. Würde sein Vater ihm das ewig vorhalten? Er sah zu, wie sich die anderen in ihre Mäntel wickelten und bald in die Arme des Schlafes sanken. Die Sommertage waren lang und schön, aber auch angefüllt mit Arbeit. Vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung saßen sie im Sattel. Er gähnte. Wenn Etys das Böse von ihnen fernhielt, warum musste er dann eigentlich Wache stehen? Er kauerte sich zusammen und schürte das Feuer. Sein Vater hatte ihm eingeschärft, es nur ja nicht ausgehen zu lassen. Falls Lewe es in der Schlucht nicht aushielt, sollte die Flamme ihm den Weg weisen.
Anak stand auf und starrte hinüber zur Felswand. Drei Schluchten gab es dort. In einer war sein Bruder verschwunden. Lewe tat ihm leid, aber er hätte es nie gewagt, die Entscheidung seines Vaters in Frage zu stellen. Vieh war wichtig, und jedes Lamm zählte. Mochten sie auch jetzt noch so viele Lämmer haben - ein einziger strenger Winter konnte das ändern. Er setzte sich wieder und gähnte. Sein Vater hatte nicht verbergen können, dass er sich Sorgen um Lewe machte. Als er die Geschichte von Etys erzählt hatte, schien er oft nicht recht bei der Sache gewesen zu sein. Anak schüttelte den Kopf. Manchmal traf Elwah ziemlich seltsame Entscheidungen, das hatte er schon am eigenen Leib erfahren. Meist war es dann seine Mutter Sigil, die vermittelnd eingriff, aber die war im Lager des Klans, viele Stunden entfernt. Das Feuer brannte langsam herunter, und er schürte es lustlos. Er starrte hinauf zu den Sternen. Die Nacht war ungewöhnlich ruhig. Selbst die nächtlichen Geräusche, die sonst die Schlucht erfüllten, schienen verstummt. Dann war ihm, als würde er ein leichtes Scharren vernehmen, irgendwo im Tal. Er setzte sich halb auf und sah sich um. Aber da war nichts.
Ein leichter Wind kam auf, und die Tiere wurden unruhig. Das war der Wind, den sie Skefer nannten, den Peiniger. Er ließ die Augen tränen, machte den Kopf schwer und Mensch und Tier reizbar. Anak seufzte. Den Wind konnte Etys mit dem Lichtstein also nicht fernhalten. Er zog seinen langen Umhang enger um sich und lauschte auf den schweren Atem seines Vaters. Schon seit einiger Zeit wälzte sich Elwah unruhig hin und her. Vielleicht hatte er einen bösen Traum. Der junge Hakul überlegte kurz, ob er ihn wecken sollte, um ihn von diesem Albdruck zu befreien. Andererseits konnte man nie wissen, was die Träume den Schlafenden sagten. Manchmal waren es Warnungen, die man beherzigen sollte. Das hatte er schon oft gehört. Es war also besser, man ließ den Traum seine Nachricht überbringen. Anak lehnte sich an einen kleinen Felsen und starrte nachdenklich ins Feuer.
Da scharrte wieder etwas in der Dunkelheit. Er hob den Kopf. Das Tal lag verlassen im Sternenlicht. Hier und da warfen Felsbrocken schwarze Schatten. Anak lauschte angestrengt, ob sich das Geräusch noch einmal wiederholte. Aber da war nichts. Und die Wölfe kamen ja nicht in dieses Tal. Mit diesem Gedanken schlief er ein.
Wolfsfährten
DER WIND HATTE gedreht. Awin spürte es im Nacken, und er sah es am Staub, den die Hufe seines Pferdes aufsteigen ließen. Müde hing er im Sattel und starrte auf den Steppenboden. Die vergangene Nacht war sehr kurz gewesen, und er fühlte sich zerschlagen. Er blickte verstohlen hinüber zu Curru, der neben ihm ritt, und fragte sich, aus welchem unverwüstlichen Holz dieser Mann wohl geschnitzt war. Zu spät bemerkte Awin, dass ihn sein Meister musterte.
»Ich werde es dir bestimmt nicht sagen, Awin«, erklärte er jetzt.
Natürlich - die Frage! Curru wartete auf eine Antwort. Awin rang seine Müdigkeit nieder und blickte auf das wilde Durcheinander von Spuren, dem sie seit einer guten Stunde folgten. Er sah die weiten Sprünge der Gazellen, dahinter die sich kreuzenden Wolfsfährten. Awin hielt sein Pferd an. Er versuchte, den dumpfen Kopfschmerz auszublenden, der immer schlimmer wurde, je höher die Sonne stieg, und sah sich um. Curru warf ihm einen humorlosen, prüfenden Blick zu. Wenn es nach Awin gegangen wäre, hätten sie das gerne
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