Der Sohn des Sehers 01 - Nomade
dieser Teil wieder klar vor Augen. »Es war eine hohe und lange graubraune Mauer, vielleicht auch eine Felswand. Und sie wurde unterbrochen von … von einer grünen Höhle … glaube ich.« Das Bild war schon wieder verblasst.
Curru starrte ihn an. »Die Mauer - ein Ort, den du kennst?«
Awin dachte nach, dann schüttelte er den Kopf. »Ich glaube, sie gehört zu einer Stadt. Aber ich war noch nie in einer Stadt. Ich weiß nur noch, dass sie sehr hoch und lang war.«
»Die Blumenpflückerin. Eine Feier«, murmelte Curru, »aber es ist nicht klar, ob aus Freude oder aus Kummer, denn du hast nicht auf die Farbe der Blüten geachtet. Und die
Mauer? Nun, das kann vieles bedeuten. Eine grüne Höhle, sagtest du?«
»Ja, Meister.«
»Nun, wir werden darüber nachdenken, was dir die Weberin damit mitteilen wollte. Vielleicht zeigte sie dir auch nur die Mauer, die zwischen dir und deiner Berufung steht, mein Junge, denn wahrlich, ich weiß nicht, warum ich immer noch versuche, dich zu unterrichten.«
Awin lag auf der Zunge, dass ein anderer Seher, nämlich sein Vater, ihm schon bei der Geburt diese Berufung in die Wiege gelegt hatte, aber er schluckte die Bemerkung hinunter. Curru ließ Zweifel an seiner Zunft meist nicht zu, nur bei Awins Vater machte er eine Ausnahme, und er wollte seinem Ziehvater nicht die Gelegenheit geben, wieder einmal über seine richtige Familie zu spotten. Daran, dass er es Curru nicht recht machen konnte, hatte er sich inzwischen beinahe gewöhnt. Er selbst hatte auch nie behauptet, ein geborener Seher zu sein. Sein Vater musste sich geirrt haben. Awin hielt das für das Wahrscheinlichste, wenn er das Schicksal bedachte, das ihn und seinen Klan ereilt hatte.
»Hörst du das?«, fragte Curru.
Awin horchte auf. Im Wind war eine Stimme, und es war nicht das Raunen der Schicksalsweberin, sondern die helle Stimme eines Mädchens. Er wendete sein Pferd. Auf dem Hügel tauchte eine Reiterin auf. Sie hielt kurz an, gab dann ihrem Pferd die Fersen und ließ es den sanften Hang hinabstürmen, dass es nur so staubte. Über Awins Gesicht huschte das erste Lächeln des Tages. Es war Wela, die Tochter des Schmieds. Völlig außer Atem hielt sie an.
»Seid ihr taub, ihr Männer?«, keuchte sie.
»Sei auch du mir gegrüßt, Wela«, antwortete Curru mürrisch. »Weiß dein Vater, in welchem Aufzug du hier durch die
Steppe reitest?«, fragte er mit missbilligendem Blick auf die Männerkleider, die sie so gerne trug. »Es ist kein Wunder, dass so selten Bewerber um deine Hand in unserem Lager erscheinen.«
Wela warf Curru einen giftigen Blick zu. »Es kommen immer noch mehr Freier meinetwegen als Ratsuchende deinetwegen, Meister Curru«, erwiderte sie, »aber ich bin nicht gekommen, um mit dir zu streiten. Habt ihr denn das Horn nicht gehört?«
»Der Wind hat gerade erst gedreht«, warf Awin schnell ein, um die üblichen Streitereien zwischen den beiden zu unterbinden. Sobald er in Welas Gesicht blickte, entdeckte er tiefe Besorgnis unter dem oberflächlichen Ärger über Curru.
»Es ist Furchtbares geschehen«, stieß sie schnell hervor, »vielleicht Krieg! Elwahs jüngster Sohn Lewe kam ins Lager, die Kleider voller Blut. Yaman Aryak ruft die Krieger zusammen.«
Awin wurde flau im Magen. Er hatte es gesehen. Das rote Gras. Das Verhängnis war wirklich bereits eingetreten. Er warf einen Seitenblick auf Curru. Dieser nickte grimmig und behauptete: »Siehst du, Junge? Es ist, wie ich sagte, der Schwarze Wolf hat das Unglück angekündigt. Und du hast es nicht gesehen.«
Awin öffnete schon den Mund, um zu widersprechen. Aber er konnte seinem Meister keine Widerworte geben, nicht in Gegenwart anderer.
Wela blickte zweifelnd von einem zum anderen. »Es scheint mir, du hättest den Wolf besser früher gefragt, Meister Curru, vielleicht hätte das Unglück dann verhindert werden können. Aber ich muss weiter. Meister Bale ist mit seiner Herde am Weißen Weiher, und der Yaman will alle Männer sofort im Lager sehen. Ihr solltet euch beeilen.« Damit drückte sie ihrem Pferd die Fersen in die Flanke und stob davon.
»Ich frage mich oft, welche Sünde Tuwin begangen hat, dass
er mit einer solchen Tochter gestraft wurde - und wir mit ihm«, brummte Curru.
Awin sah Wela noch eine Weile hinterher. Er mochte sie schon deshalb, weil sie sich von Curru nichts gefallen ließ.
»Träum nicht, Junge, du hast diese Unglücksbotin gehört. Wir müssen zurück.«
Die staubigen Hügel endeten an einem schmalen
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