Der Sohn des Sehers 01 - Nomade
versprochen, dass sie
in unserer Mitte reitet? Sie mag uns folgen, wenn sie unbedingt will.«
»Aus diesem Sger wird niemand ausgestoßen, mein Sohn«, belehrte ihn der Yaman.
»Dann lass Awin neben ihr reiten. Wenn sie ihn behext, kann unser Sger den Verlust verschmerzen«, erwiderte Ebu giftig.
Awin erbleichte. Das war selbst für Ebus ohnehin anmaßende Art ungeheuerlich. Er bemerkte die Seitenblicke, die sich die Männer zuwarfen.
»Ebu, mein Sohn, wenn du dich nicht selbst am Ende dieses Zuges wiederfinden willst, solltest du deine Zunge hüten«, wies ihn Aryak scharf zurecht. »Dennoch werde ich deinem Vorschlag folgen, aber aus anderen Gründen, als du denkst. Es scheint mir nämlich so zu sein, dass Awin der Einzige von euch ist, der keine Angst vor dieser jungen Frau hat.«
»Aber sie soll nicht in meine Nähe kommen, Baba«, rief Eri aufgebracht.
Der Yaman sah seinen Jüngsten nachdenklich an. Dann nickte er knapp. »Du magst wieder mit den Yamanoi reiten, mein Sohn, doch sei gewarnt, es ist noch lange nicht vergessen, was du getan hast.«
»Was hat er denn getan?«, fragte einer der Fuchs-Krieger Awin halblaut.
Aber Awin beantwortete die Frage nur mit einem Achselzucken und lenkte seinen Schecken mit sehr gemischten Gefühlen an seinen neuen Platz am Ende des Sgers.
»Stimmt es, was sie sagen?«, fragte ihn die Kariwa, als sie neben ihm auftauchte.
»Was meinst du?«, fragte er vorsichtig.
»Dass du keine Angst vor mir hast.«
Awin zuckte wieder mit den Schultern. »Sollte ich mich denn vor dir fürchten?«
Merege sah ihn aus ihren hellen Augen einen langen Moment unbewegt an. Dann beantwortete sie seine Gegenfrage ebenfalls mit einem Achselzucken.
Der Sger setzte sich wieder in Bewegung, und da Awin bemerkte, wie beunruhigt Tauru und Marwi immer wieder über die Schulter zurückblickten, ließ er sich ein Stück zurückfallen.
»Ist mit deinem Schecken etwas nicht in Ordnung?«, fragte Merege.
»Nein, alles bestens, aber ich glaube, es ist besser, wenn wir etwas Abstand halten.«
»Wegen der anderen?«, fragte die Kariwa.
»Wegen des Staubs«, log Awin und zog seinen Sandschal vors Gesicht.
Eine Weile ritten sie schweigend nebeneinander. Deges Unglückspferd folgte ihnen, obwohl es weder Halfter noch Leine dazu zwangen.
Awin nahm den Schal wieder ab. »Warum … warum folgt der Falbe dir?«, fragte er und versuchte vergeblich, dabei nicht zu stottern.
»Ich sagte es doch: Ich habe ihn darum gebeten.«
Awin überlegte lange, er wollte ja auch nichts Dummes sagen, aber schließlich fragte er: »Kannst du, ich meine, sprichst du die Sprache der Tiere?«
Sie schüttelte den Kopf, gab ihm aber auch keine andere Erklärung.
Noch mehrfach versuchte Awin, ein Gespräch mit der Kariwa anzufangen, doch sie war stets einsilbig und gab auf keine seiner Fragen eine klare Antwort.
Der Turm, den sie schon von weitem gesehen hatten, rückte näher. Es war ein dunkles Gemäuer, das hoch in den Himmel ragte. Awin hatte an zwei Beutezügen teilgenommen, und beide
hatten ihn in das Land der Budinier geführt. Sie hatten Dörfer überfallen und sich genommen, was sie brauchten. Siedlungen und Häuser waren ihm also nicht fremd, aber noch nie hatte er ein so großes Gebäude gesehen. Er hätte es auch gar nicht für möglich gehalten, dass ein von Menschen errichtetes Bauwerk so hoch in den Himmel ragen konnte. Bald jedoch erkannte er, dass die Akkesch bei der Errichtung des Turms einen Trick angewendet hatten, denn er war zu großen Teilen auf einem mächtigen roten Felsen erbaut worden. Oben, auf dem Rücken des Felsens, überragte ein mächtiger Klotz aus fensterlosen Lehmmauern das weite Land. Zu seinen Füßen erwartete sie eine befestigte Siedlung mit hohen Mauern. Die Eisenstraße schlug einen Bogen und lief nun genau auf den Turm zu. Der Sger folgte ihr.
Als sie näher kamen, verflüchtigte sich der erhabene Eindruck von Macht, die der Turm aus der Ferne ausstrahlte. Awin sah, dass das Mauerwerk schadhaft und an vielen Stellen nur notdürftig geflickt war. Je näher sie kamen, desto abstoßender wirkte die Festung auf ihn. Aber es war ihm ohnehin rätselhaft, wie jemand freiwillig sein ganzes Leben in der Enge eines unbeweglichen Lehmhauses verbringen konnte, statt wie die Hakul über die endlosen Ebenen zu ziehen. Sie hatten die Mauer schon beinahe erreicht, als dünner Hörnerklang ertönte. Er blieb ohne Antwort, aber hinter den Zinnen über dem Tor zeigte sich ein Mann mit einem
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