Der Sohn des Sehers 02 - Lichtträger
hinab in den Hof. Büsche und sogar Bäume hatten im Schutz der Mauern Wurzeln ins Gestein geschlagen, im weiten Innenhof der Festung bildeten stattliche Birken und Ulmen einen dichten Hain. Er stutzte. Das hatte er schon einmal gesehen. Das waren die Bäume, unter denen er den vier Windskrolen begegnet war. In der Mitte des weitläufigen Hofes war ein achteckiger Platz sorgsam von Bewuchs freigehalten worden. Von dort stieg das weiße Licht auf, und da sah er auch endlich die Göttin, Xlifara Slahan, einen leuchtenden Schemen in der Mitte des Platzes. Ihre Hand ruhte auf einer seltsamen, gleißend hellen Säule, die sich in das weiße Pflaster gebohrt zu haben schien. Das Licht der Säule flackerte und sprang in wilden Zuckungen über den Nachthimmel.
»Was tut sie da?«, flüsterte Wela und brach damit das gebannte Schweigen.
»Die Alte Kraft. Sie hat sie gefunden«, antwortete Merege tonlos.
»Was jetzt?«, fragte Tuge mit belegter Stimme.
Awin konnte seinen Gefährten ansehen, wie beeindruckt sie waren, und ihm ging es nicht anders. Was jetzt? , das war die entscheidende Frage. »Wir müssen näher heran«, flüsterte er zur Antwort. »Was sie auch tut, wir dürfen sie dieses Ritual nicht vollenden lassen.« Und er hoffte, dass sie unbemerkt nahe genug herankamen, um die Göttin zu überraschen, und dann … dann kam es auf Merege an.
»Hakul!«, rief es plötzlich laut vom Tor, und noch einmal: »Hakul!«
Die Göttin erstarrte in ihren Bewegungen.
»Narr!«, murmelte Mahuk.
»Los, schnell weiter«, rief Awin leise, und er verfluchte Harmin für seinen Übermut, denn er hatte die Stimme erkannt. Er sprang die Stufen hinab, und die anderen folgten ihm, ohne zu zögern. Wenn Slahan ihre Aufmerksamkeit auf das Tor richtete, dann konnten sie sie immer noch überraschen. Ein durchdringender Schrei erschütterte die Mauern. Slahan hatte also erkannt, dass Feinde in der Festung waren. Die Erde bebte, Donner sprang über die Felsen und rollte über die Ebene. Awin wäre fast von der Treppe geschleudert worden. Steine brachen oben aus den Mauern und polterten die Felsbuckel hinab. Auf dem Platz geschah etwas. Von der gleißenden Säule strömte Licht in langen Speichen zum Rand des Platzes. Awin sah, dass die Speichen aber plötzlich nicht weiterstrebten, sondern sich teilten und begannen, einen Kreis zu bilden.
»Sie schützt sich«, stieß Merege hervor.
»Den Heolin, Wela, schnell«, rief Awin.
Wela riss die lederne Hülle vom Lichtstein.
»Wind kommt«, rief Mahuk.
Die Gestalt auf dem Platz entdeckte sie. Für einen Augenblick schien sie völlig stillzustehen, dann stieß sie einen erneuten Schrei aus, schrill und markerschütternd. Mabak hielt sich
die Ohren zu. Awin hatte den Fuß der Treppe gerade erreicht, als mit plötzlicher Wucht ein Sturm über sie hereinbrach.
»Nyet«, schrie Awin gegen den Wind.
Sie stemmten sich gegen den Sturm und liefen weiter. Nyet zerrte an ihren Gewändern. Awin stolperte voran. Er sah, dass der leuchtende Kreis geschlossen war. Das Licht begann in Schleiern aufzusteigen.
»Vorsicht!«, rief Wela.
Awin blickte auf. Eine Birke zersplitterte neben ihm, und der Stamm stürzte in seine Richtung. Er entkam mit knapper Not. Dann fiel eine Ulme, und dieses Mal galt der Angriff Tuge, der seinen Bogen in der Hand hielt, als könne er damit etwas gegen den Sturm ausrichten. Der Bogner sprang behände zurück. Schemenhaft glaubte Awin, die Gestalt Nyets zwischen den Bäumen zu erkennen. Das schrille Lachen von Seweti war im Wind, und dann, genauso plötzlich, wie er gekommen war, war der Sturm fort. Dumpfe Stille senkte sich über den Hof, und die Göttin - war verschwunden. Der große Kreis, das aufsteigende Licht, der gleißende Stab - das alles war fort. Nur das bleiche Leuchten selbst war geblieben. Es warf Schatten durch Bäume, die dort wuchsen, wo eben noch ein Platz gewesen war. Schreie und das Klirren von Schwertern klangen durch die Stille. Am Tor wurde gekämpft. Ein fernes Brausen erhob sich jetzt über der Ebene. Es schien mit rasender Geschwindigkeit auf die Festung zuzurollen und wurde lauter und lauter. Awin ahnte, was kommen würde: Nyet der Angreifer würde sich auf das Tor stürzen. Dann war er da. Er rannte gegen die starke Pforte an, und Awin hörte es durch den ganzen Hof splittern. Die Torflügel waren zerstört. Wieder lachte Seweti mit schriller Stimme. Sie lachte sie aus.
»Die Göttin, wo ist sie hin?«, rief Tuge, der sich mit Mabak hinter einen
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