Der Sohn des Sehers 02 - Lichtträger
Wasser sprang munter von einem nahen Hang hinab. Irgendwo dort musste seine Quelle sein. Merege hatte recht, es würde ihre Worte übertönen.
»Ich muss dich warnen«, begann Awin, »Isgi hat gedroht, dass dir etwas geschehen könnte.«
»Also auch Isgi«, erwiderte Merege ruhig.
»Wieso auch?«
»Curru und Eri haben mich heute aufgesucht.«
»Sie haben dir gedroht?«, fragte Awin verwundert. Die beiden mussten doch aus eigener Erfahrung wissen, wie stark die Kariwa war.
»Zuerst nicht. Eigentlich kamen sie zu mir, um mich um Hilfe zu bitten.«
Jetzt verstand Awin gar nichts mehr.
Merege erklärte es ihm: »Sie wollen den Heredhan töten, das heißt, eigentlich wollen sie, dass ich den Hauptteil der Arbeit übernehme.«
» Du sollst Horket für sie töten?«, rief Awin, der nun begriff.
»Leise, Awin, der Bach ist freundlich, aber nicht laut genug, um dich zu übertönen, wenn du so einen Lärm vollführst.«
»Ich verstehe aber immer noch nicht, wie …«
»Sie haben mir den Heolin als Lohn versprochen«, unterbrach ihn Merege.
Awin verstummte. Er wusste, wie verführerisch dieses Angebot für die Kariwa war. Der Lichtstein war der Grund, warum sie noch bei ihnen war. Sie behauptete, er sei ein Teil des Siegels am Skroltor, jenem Tor am nördlichen Rand der Welt, das die Daimonen von den Ländern der Menschen fernhielt. Der große Etys hatte es angeblich von dort gestohlen. Und das fand Awin immer noch schwer zu glauben. »Und meinst du, dass sie sich an ihr Versprechen erinnern, wenn sie haben, was sie wollen, Merege?«, fragte er.
»Das spielt keine Rolle, denn ich habe ihr Angebot abgelehnt. Ich bin keine käufliche Mörderin.«
Awin konnte gar nicht sagen, wie erleichtert er über ihre
Entscheidung war. Aber dann dachte er an den Beginn ihres Gespräches und fragte: »Und dann haben sie dir gedroht? Haben sie vergessen, was in Uos Mund geschah, oder wie du Eris Bogensehne hast reißen lassen?«
»Nein, das haben sie nicht vergessen«, erwiderte Merege, »aber ich habe ja auch nicht gesagt, dass sie mich bedroht hätten.«
Awin öffnete den Mund, aber es kamen keine Worte heraus. Das konnte doch nur heißen … »Sie haben doch nicht etwa gesagt, dass sie mir etwas antun wollen?«, fragte er ungläubig.
»Du kennst Curru«, erwiderte Merege nachdenklich, »er hat alles nur angedeutet. Eigentlich hat er es so ausgedrückt, dass dein Leben in großer Gefahr wäre, wenn der Heredhan nicht stirbt. Und er sagte etwas über den Klan der Schwarzen Dornen, von dem Horket etwas nicht wisse.«
Merege saß nicht oft mit am Feuer, wenn sie sich unterhielten, also wusste sie vielleicht gar nichts über Awins Abstammung. Er klärte sie rasch in wenigen Sätzen über die Zusammenhänge auf.
»Es heißt, dass Fremde nicht in den heiligen Kreis eintreten dürfen, aber jetzt sagst du, dass ein Maghai genau dort Horket zu seiner Macht verholfen hat? Ihr seid ein unstetes Volk und ändert eure Gesetze immer so, wie es euch gerade gefällt.«
Awin verfiel in nachdenkliches Schweigen. All diese Bedrohungen, die sie umgaben, die beinahe unerfüllbaren Aufgaben, die vor ihnen lagen, bedrückten ihn. Als er vom Sichelsee aufgebrochen war, hatte er klar und deutlich einen Weg gesehen, gefährlich, aber einen Pfad, der leicht zu verfolgen war, und alles andere hatte sich dem untergeordnet. Doch jetzt saß er plötzlich im Ahnental fest, und wie schwarze Spinnen woben Curru und Isgi ihre Netze, um ihn und den Heolin einzufangen. Er wollte sich nicht einfangen lassen. Aber das alles war
so … schwer. Er lauschte dem lebhaften Plätschern des Baches, das ihm beinahe unpassend friedvoll erschien. Merege war nah bei ihm. Er konnte den ihr eigenen zartherben Duft riechen, und wenn der Wind eine Böe schickte, streifte ihr langes schwarzes Haar sein Gesicht. Ihre helle Haut schimmerte blass im Mondlicht, und er fragte sich, wie sie sich wohl anfühlen mochte. Warum konnten sie nicht für immer an diesem Bach bleiben und den schnell ziehenden Wolken zusehen?
»Wir sind nicht allein«, erklärte Merege plötzlich. Sie bückte sich, und Awin hörte, dass sie etwas aus dem Boden ausriss.
Awin schreckte aus seinen Gedanken hoch. »Der Mann vom Steinkreis?« Seine Hand suchte die lederne Hülle. In dieser Dunkelheit würde der Heolin vielleicht schon genug Licht spenden, um die Schatten zu durchdringen.
Aber Merege war schneller. » Naiwas Gaida! «, rief sie leise. Ein kleiner blasser Funke stieg von ihrer ausgestreckten
Weitere Kostenlose Bücher