Der Sohn des Sehers 02 - Lichtträger
eigentlich zu erschöpft ist und nach Ruhe verlangt. Meinen Schwiegersohn würde ich vielleicht in das eine oder andere Geheimnis einweihen, Awin, aber ich muss dir sagen, dass es viele Bewerber um die Hand von Isgis Tochter gibt, du solltest also nicht zu lange zögern.«
Awin sah zu Boden, denn er wollte das gänzlich unbegründete Grinsen verbergen, das über sein Gesicht schlich. Das war alles völlig verrückt. Isgi bot ihm seine Tochter an? Vielleicht sollte er sich mit Harmin absprechen, der ihm seine Enkelin angeboten hatte. Awin fragte sich, was diese beiden jungen Frauen wohl davon hielten, dass sie derart verschachert werden sollten. Er sammelte sich und sagte: »Ich danke dir für deine wohlmeinenden Worte, Isgi, deine Tochter muss sich glücklich schätzen, dass sie so begehrt ist. Doch ich glaube nicht, dass ich mich unter die Bewerber einreihen werde.«
Kurz verschwand der Ausdruck unendlicher Sanftmut aus Isgis Gesicht. »Ist es wegen der Kariwa? Ich hörte da gewisse Gerüchte …«
Awin starrte den Seher entgeistert an.
»Du solltest sie übrigens warnen, Awin«, fuhr Isgi mit plötzlich sehr kalter Stimme fort. »Es ist gefährlich, wenn sie sich allein am Rande des Lagers herumtreibt. Unsere Wachen sind von der Furcht erfüllt, die Gefallene Göttin könnte hier erscheinen. Sie könnten die Kariwa leicht mit ihr verwechseln. Ich habe meinen Männern zwar gesagt, wer sie ist, aber du weißt ja, wie die Krieger sind. Es wäre doch schade, wenn einer meiner Männer sie versehentlich tötet.«
Awin verstand die kaum verhüllte Drohung nur zu gut: »Sie töten? Das haben schon andere versucht und es sehr bereut, Isgi. Das solltest du deinen Männern sagen«, entgegnete er scharf.
»Ah, ich sehe, du bist zornig und zweifelst immer noch an meinen guten Absichten. Ich kann es dir nicht verdenken, denn bisher hat Tengwil verhindert, dass wir Freunde wurden. Du solltest überschlafen, was du heute gehört hast. Denke einfach in Ruhe darüber nach und lausche auf die Stimme der Vernunft. Vergiss die alten Zwistigkeiten und sieh nach vorn, dann wirst du sehen, dass es das Beste für dich wäre, mein Angebot anzunehmen. Ich erwarte deine Entscheidung morgen, Awin, Kawets Sohn, nicht später.«
Awin eilte durch die Nacht. Er musste Merege warnen. Das Lager war immer noch nicht zur Ruhe gekommen. Lagerfeuer brannten, an einigen wurde gesungen, an anderen still getrauert, und an manchen wurde auch gestritten. Beißender Rauch lag in der Luft, und darüber roch es nach Regen. Awin war so in Gedanken, dass er die Reiter erst bemerkte, als sie ihn fast schon über den Haufen geritten hatten. Pferde schnaubten unwillig, als die Reiter sie zurückrissen. »Mach die Augen auf, Hakul!«, rief eine zornige Stimme.
Awin blickte erschrocken auf. Ein Sgertan baumelte dicht vor seinen Augen, es sah fast aus, als wolle der Träger der Sgerlanze ihn damit durchbohren. Awin kannte das Zeichen nicht. Im flackernden Licht der Lagerfeuer sah er drei einfache gekreuzte Striche. Ein Krieger blitzte ihn an. »Das nächste Mal reiten wir dich nieder, Knabe!«
Bevor Awin seine Überraschung überwinden konnte, mischte sich ein anderer Hakul ein: »Freche Töne für so ehrlose Räuber wie die sogenannten Krieger vom Klan der Dolche.
« Das kam von einem der Lagerfeuer, wo ein weiterer Hakul aufgestanden war. Jetzt schlenderte er breit grinsend näher heran.
Der Reiter, der Awin angefahren hatte, wendete sein Pferd und ritt ein Stück zurück. Er schien trotz seiner jungen Jahre der Yaman des Klans zu sein. Seine Krieger, Awin zählte ungefähr dreißig, waren schlammbespritzt, und ihre Pferde sahen müde aus. »Wer kläfft uns denn da an wie ein räudiger Hund?«, fragte der Yaman wütend.
»Ich bin Getwin vom Klan des Bussards«, lautete die stolze Antwort. »Und wir haben nicht vergessen, wer unser schutzloses Lager überfiel und beraubte, als unsere Männer auf Kriegszug waren.«
Der Yaman starrte ihn finster an. »Auch wir haben das nicht vergessen und singen immer noch Lieder über eure Dummheit und diesen leichten und großen Sieg, mag er auch mehr Jahre zurückliegen, als wir beide zusammen zählen, Hakul.«
Seine Männer hatten einen bedrohlichen Kreis um den Rufer gebildet. Aber dieser wirkte keineswegs eingeschüchtert. Andere Krieger erhoben sich von ihren Feuern und schlenderten heran. Es roch nach einem ernsten Streit, und das war immer anziehend für einen Hakul. Auch Awin vergaß für einen Augenblick
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