Der Sohn des Sehers 03 - Renegat
Wissen. Sie hatte um Rat in Dama gebeten, der Hauptstadt der Viramatai am Allsee, und Wela, die dann offenbar gespürt hatte, dass etwas Dunkles, Gefährliches im Gange war, hatte begonnen, sich Sorgen zu machen. Die Antwort war überraschend schnell gekommen: Die Hohepriesterinnen der Sonnentöchter rieten ihm dringend von seinem Vorhaben ab. Aber sie gaben zu, dass es möglich war, und das war es gewesen, was Awin hatte wissen wollen. Erst dann hatte er Wela und die anderen eingeweiht. Natürlich hatten auch sie versucht, ihm seinen Plan auszureden. Er hätte auf sie gehört, wenn er noch eine andere Möglichkeit gesehen hätte, aber die sah er nun einmal nicht. Alle Versuche zur Rettung Mereges hatten sich bisher als untauglich erwiesen, also musste er neue, dunklere Pfade einschlagen.
Awin dachte noch einmal verbittert an die Fehlschläge zurück, die sie erlitten hatten. Mahuk hatte ihn einmal gefragt, ob er seine Sehergabe verloren hatte, und Awin hatte eingestanden, dass es so war, doch eigentlich war das nicht ganz richtig. Seine Gabe war noch da, aber sie führte ihn immer nur an denselben finsteren Ort. Wie oft hatte er versucht, auf die Reise des Geistes zu gehen, und immer hatte es in einem schwarzen Raum geendet, der erfüllt war von leisen, aber furchterregenden Stimmen, und auch seine wenigen Träume führten ihn stets dort hin. Er hatte gehofft, Mahuk würde bei seiner langen Suche in der Wüste ein hilfreiches Kraut finden, aber der Raschtar war mit leeren Händen zurückgekehrt. Dann hatten sie in ihrer Verzweiflung sogar versucht, den leblosen Leib Mereges auf einer Trage zu den Kariwa zu bringen, in der schwachen Hoffnung, diese wüssten Rat. Auch das hatten viele wohlmeinende Menschen Awin ausreden wollen; zu weit und
gefährlich sei der Weg, zu zahlreich seine Feinde. Er hatte sich durchgesetzt, allerdings waren sie nicht weit gekommen: Kaum hatten sie die Festung verlassen, hatte der Körper Mereges zu zittern begonnen. Sie hatten für einen kurzen Augenblick geglaubt, dies sei ein gutes Zeichen. Aber Mahuk hatte ihr ins Antlitz gesehen und gesagt: »Sie stirbt.«
Und dann hatte auch Awin gesehen, dass das Leben Merege endgültig verlassen wollte. Er konnte später nicht erklären, woran er das erkannt hatte, denn bis auf das Zittern schien sie unverändert, aber er hatte es gesehen . Erst als Merege wieder in der Festung gewesen war, hatte das Zittern aufgehört, und der letzte Rest Leben, der noch in ihr war, schien zu bleiben.
Jetzt lag sie vor ihm auf der Bahre, in ihrem schlichten schwarzen Gewand, und ihr helles Gesicht strahlte Ruhe aus. Wären ihre Augen geschlossen gewesen, hätte man sie für schlafend oder tot halten können, aber sie standen weit offen und schimmerten matt weiß. Die Pupillen waren verschwunden, so wie in dem Augenblick, als sie nach dem fürchterlichen Zweikampf mit Slahan zusammengebrochen war. Merege hatte von der Alten Kraft genommen, jener Kraft, die den Göttern vorbehalten war, und deren Quelle die verfluchte Göttin hier gefunden hatte. Und dann hatte die Kariwa Uo herbeigerufen, den Totengott, und der hatte den Kampf entschieden. Er hatte Slahan mitgenommen, die Gefallene Göttin - und Awin war sich inzwischen sicher, dass er auch Mereges Geist fortgeführt hatte in sein dunkles Reich. Dorthin wollte er nun selbst aufbrechen. Awin biss die Zähne zusammen. Er hatte lange genug überlegt und abgewogen. Seine Entscheidung war gefallen, er würde den Weg gehen - bis zum bitteren Ende, wenn es sein musste.
Er legte das Messer und die Bronzeschale zurecht. Awin versuchte sich zu sammeln und entzündete die plumpe Wachskerze,
die vor ihm auf dem Boden stand. Er betrachtete nachdenklich den Beschwörungskreis, den die Seher zogen, wenn sie sich auf die Reise begaben, diese dünne Linie, die sie in die Erde oder in Lehmböden kratzten, damit ihr Geist nicht über den Rand der Welt abgetrieben wurde. Er hatte seinen mit schwarzer Kohle auf das weiße Pflaster gemalt. Brami Vareda und Mahuk hatten ihn bei seinen Vorbereitungen überwacht. Sie hatten überhaupt nur zugestimmt, weil er sie in die wichtigsten Geheimnisse des Rituals eingeweiht hatte, und sie hatten peinlich genau darauf geachtet, dass ihm keine Fehler oder Nachlässigkeiten unterliefen. Der Erdkreis war etwas, über das er lange nachgedacht hatte. Jetzt stand er kurz entschlossen auf und verwischte ihn mit dem Fuß. Er war nicht sicher, ob sein Ziel innerhalb der Welt lag. Noch einmal atmete er
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