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Der Sohn des Wolfs

Der Sohn des Wolfs

Titel: Der Sohn des Wolfs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack London
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seinen Blick über die pelzgekleideten Reihen schweifen ließ, um Gesichter zu suchen, die er vermißte, kam ihm die wilde Größe des finsteren Auftritts zum Bewußtsein. Sein Blick weilte einen Augenblick auf einem neugeborenen Kinde, das an der nackten Brust seiner Mutter saugte. Es war sehr kalt – mehr als siebzig Grad Fahrenheit. Er dachte daran, wie empfindlich gegen die Kälte die Frauen seiner eigenen Rasse waren, und lächelte finster. Und doch war er den Lenden eines so zarten Weibes mit einem so königlichen Erbe entsprungen – einem Erbe, das ihm die Herrschaft über Land und Meer, über Tiere und Völker aller Zonen verlieh. Ein einzelner gegen hundert, vom arktischen Winter umgeben, fern von den Seinen, fühlte er den Drang, das Erbe zu heben, den Wunsch, zu besitzen, die wilde Liebe zur Gefahr, die Lust zum Kampf, die Fähigkeit zu siegen oder zu sterben.
    Singen und Tanzen hörten auf, und der Schamane entwickelte eine wilde Beredsamkeit. Mit allen Mitteln seiner wüsten Mythologie bearbeitete er klug die Leichtgläubigkeit seines Volkes. Seine Stellung war stark. Indem er das gute, schöpferische Prinzip als in der Krähe und im Raben verkörpert hinstellte, brandmarkte er Mackenzie als den Wolf, das streitbare, vernichtende Prinzip. Der Kampf zwischen diesen Mächten war nicht allein geistig, Mann gegen Mann kämpfte ihn, jeder unter seinem Totem. Sie waren die Kinder von Jelchs, dem Raben, dem Feuerbringer; Mackenzie war ein Kind des Wolfs oder, mit andern Worten, des Teufels. Für sie war es Verrat und Gotteslästerung schlimmster Art, in diesem ewigen Kampf Waffenstillstand zu schließen, ihre Töchter dem Erbfeind zu vermählen. Kein Ausdruck war zu stark, keine Bezeichnung gehässig genug, um Mackenzie als Meuchelfeind und Sendung des Satans zu brandmarken. Als er in seiner Rede so weit gelangt war, hörte man aus tiefer Brust seiner Zuhörer ein wütendes, unterdrücktes Knurren.
    »Ja, meine Brüder. Jelchs ist allmächtig! Brachte er uns nicht das himmlische Feuer, damit wir uns wärmen konnten? Zog er nicht Sonne, Mond und Sterne aus ihren Höhlen, damit wir sehen konnten? Lehrte er uns nicht, mit den Geistern des Hungers und des Frostes zu kämpfen? Aber jetzt ist Jelchs zornig auf seine Kinder, und sie sind hingeschwunden bis auf eine Handvoll, und er will ihnen nicht mehr helfen. Denn sie haben ihn vergessen und sind böse Wege gewandert. Sie haben seine Feinde in ihre Hütten eingelassen und ihnen erlaubt, an ihren Feuern zu sitzen. Und der Rabe trauert über die Sünden seiner Kinder; wenn sie sich aber erheben und zeigen, daß sie sich besonnen haben, dann wird er aus der Finsternis kommen und ihnen helfen. Oh, Brüder! Der Feuerbringer hat euerm Schamanen eine Botschaft zugeflüstert, und ihr sollt sie hören.
    ›Laßt die jungen Männer die jungen Weiber in ihre Hütten führen. Laßt sie dem Wolf an die Kehle fahren; laßt ihre Feindschaft nicht sterben. Dann sollen ihre Weiber fruchtbar werden, und sie sollen zu einem mächtigen Volk aufwachsen! Und der Rabe wird den großen Stamm ihrer Väter und ihrer Väter Väter aus dem Norden herbeiführen. Und sie werden die Wölfe zurücktreiben, bis sie wie das Lagerfeuer verschwundener Jahre sind, und wir werden wieder über alles Land herrschen!‹ Das ist die Botschaft von Jelchs, das Wort des Raben.«
    Diese Verheißung vom Kommen eines Messias ließ die Sticks aufspringen und in ein heiseres Heulen ausbrechen.
    Mackenzie zog vorsichtig die Daumen aus den Fausthandschuhen und wartete, was da kommen sollte. Geschrei erhob sich, man rief nach dem Fuchs, bis einer der jungen Männer vortrat und sprach:
    »Brüder! Der Schamane hat weise gesprochen. Die Wölfe haben unsere Weiber genommen, und unsere Männer sind kinderlos. Wir sind zu einer Handvoll eingeschrumpft.
    Die Wölfe haben unsere warmen Felle genommen und uns böse Geister dafür gegeben, die in Flaschen wohnen, und Kleider, die nicht vom Biber oder vom Dachs kommen, sondern aus Gras gemacht sind. Und sie sind nicht warm, und unsere Männer sterben an seltsamen Krankheiten.
    Ich, der Fuchs, habe mir kein Weib genommen, und weshalb? Zweimal sind die Mädchen, die mir gefielen, in das Lager der Wölfe gegangen. Und jetzt habe ich Felle von Biber, Elch und Rentieren gesammelt, um die Gunst Thling-Tinnehs zu gewinnen, daß er mir Zarinska, seine Tochter, gebe.
    Aber jetzt hat sie Schneeschuhe an den Füßen, um den Hunden des Wolfs den Weg zu bahnen.
    Ich rede nicht für mich

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