Der Sohn (German Edition)
und abhauen!«
Mitch verstummte kurz und erzählte dann: »Opa hörte, wie die Schranktür aufgemacht wurde, hörte den Mann auf der anderen Seite der Zwischenwand atmen. Sein Finger krümmte sich um den Abzug, der Schweiß brach ihm aus. Er hörte, wie der Mann mit einem Knüppel die Schrankwände abklopfte, und danach hörte er ihn sagen: ›Niemand hier.‹ Und dann ging er – dann gingen sie beide. Herman blieb allein zurück. Er war erst dreizehn und hatte noch nie geschossen, außer in seiner Einbildung oder mit einem Holzgewehr. Er wollte das Allergrößte tun, und was er letzten Endes tat, war… gar nichts. Opas Vater, Opas Mutter und Federmann wurden nach Westerbork gebracht. Und von dort nach Auschwitz deportiert. Und Opa Herman hat drei unvorstellbar scheußliche Monate allein in diesem Haus zugebracht – bis er eines Tages gefasst wurde.«
Mitch blieb lange still. Ich blickte auf sein Gesicht auf dem Monitor. Ich hätte ihn so gerne berührt.
Ich fragte: »Aber er sollte doch zu dieser Familie gehen!? Dieser Familie Leeder!«
»Ach ja. Als er noch am selben Abend zu ihnen ging, ganz vorsichtig, kurz vor Beginn der Sperrzeit, sah er in ihrer Straße Razzien. Auch vor dem Haus der Leeders stand ein Polizeibus, wenn er sie selbst auch nicht sah. Er stellte sich hinter einen Baum und bekam von dort aus mit, wie zuerst eine jüdische Familie aus einem Haus geholt wurde und danach die Leute, die ihnen Unterschlupf gewährt hatten. Man verfuhr genauso unsanft mit ihnen wie mit seinen Eltern. Ein Mädchen wurde vor seinen Augen von einem der Männer getreten. Danach wollte er nicht mehr zu den Leeders. Mit diesem Anwalt konnte er auch nie Kontakt aufnehmen – er litt so sehr unter seiner Ohnmacht und seinen Schuldgefühlen, dass er nicht auch noch andere in Gefahr bringen wollte.«
»Aber sie haben doch nach ihm gesucht, nehme ich an? Das war doch so verabredet?«
»Ja, sie haben nach ihm gesucht. Aber da hatte Herman sich schon versteckt, panisch und fest entschlossen, dass er allein bleiben müsse. Er dachte wirklich, er könnte den Krieg allein aussitzen, und er fand auch, dass er das können müsse.«
»Aber wie denn? Wovon lebte er denn?«
»Das hat er mir auch erzählt. Fast verrückt vor Kummer und Einsamkeit hat er drei Monate lang von geklauten Kartoffeln und Möhren gelebt, die seine Nachbarn im Garten anbauten. Ein paarmal hat er bei ihnen auch einen Becher Milch aus der Küche gemopst. Er war immer darauf bedacht, ganz leise zu sein, damit die Nachbarn nicht mitbekamen, dass noch jemand im Haus war. Aber sie müssen wohl doch etwas gehört haben, was sie schließlich misstrauisch machte – auch weil Essen verschwand. Sie haben dann wohl die Polizei informiert. Und die Polizei, dieselben feinen Herren, die vorher schon einmal da gewesen waren, um aufzulisten, was alles im Haus zurückgeblieben war, haben ihm eines Tages aufgelauert, ganz link. Die Tür war nicht abgeschlossen. Sie haben ihn gleich mitgenommen. Ohne Pistole übrigens. Die war noch in dem Versteck im Schrank. Ohne Pardon wurde er nach Westerbork gebracht. Von wo seine Eltern inzwischen deportiert worden waren. Sein Vater endete in Bergen-Belsen, seine Mutter in Stutthof. Herman kam nach Auschwitz, und von dort nach Groß-Rosen, aber das war erst viel später.«
Ich schaute in das junge, ernste Gesicht meines Sohnes auf dem Bildschirm. Diese Namen aus seinem Mund zu hören, war schon fast pervers. Dass er all das wusste und ich nicht, das war schwer zu fassen. Ich dachte an das, was mein Vater auf seinem Sterbebett immer wieder zu sagen versuchte. Was hatte er bloß gemeint?
»Als Opa so krank war, murmelte er dauernd vor sich hin. Ich glaube, es ging um seine Mutter«, sagte ich. »Und um Wagner. Aber vielleicht wollte er mich auch nur vor der Pistole unter seinem Schreibtisch warnen. Ist es die Pistole von damals?«
Mitchs Gesicht verriet keinerlei Regung. Ich hörte aber das Zaudern in seiner Stimme.
»Es muss die Pistole von damals sein, ja. Er hat sie mir beschrieben. Aber wo er sie versteckt hatte, hat er mir nicht erzählt. Nur, dass er sie nach dem Krieg wiedergefunden hat – in diesem Schrankversteck in seinem Elternhaus. Er hatte dort angerufen, im Beisein dieses Anwalts Born, der damals noch lebte. Und man gestattete ihm, sich im Haus umzusehen. Natürlich war alles Mögliche geklaut worden, aber das Versteck im Schrank war unverändert. Und die Pistole war noch drin. Eine alte Luger. Federmann hatte sie in
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