Der Sokrates-Club
sind Kinder zunächst Realisten, wenn sie auch oft einem Perspektivismus verhaftet sind, also meinen, was sie aus ihrer Perspektive wahrnehmen, sei objektiv so. Ältere Kinder und Jugendliche nehmen dagegen oft, zumindest für eine gewisse Zeit, eine konstruktivistische Haltung ein, die es ihnen erspart, sich damit auseinanderzusetzen, was– objektiv– für eine bestimmte Überzeugung, eine bestimmte Handlung spricht. Dieser » pubertäre« Konstruktivismus ist attraktiv, weil er erlaubt, die eigenen subjektiven Meinungen der Kritik zu entziehen.
»Ich kann zwar glauben, dass ich blonde Haare hab, aber in Wirklichkeit hab ich auch ein paar braune! … Vielleicht kann das so ein Wissenschaftler sagen, wenn der so ein Gerät hat, mit dem er sich die Haare ganz genau ansehen kann.«
Szientismus, Gewissheit und Ungewissheit
Wie unser Gespräch mit den Kindern, aber auch die eigene Erfahrung zeigt, hoffen wir häufig, dass uns drängende Fragen von wissenschaftlicher Seite überzeugend beantwortet werden. Szientismus ist die Auffassung, dass die einzige Form verlässlicher Rationalität die wissenschaftliche, speziell die naturwissenschaftliche sei, dass erst die Wissenschaften etablieren, was gilt und was nicht gilt, was existiert oder nicht existiert. Das ist ein Irrtum, auch die Wissenschaften müssen sich an unserer Erfahrung bewähren, die Wissenschaften setzen die Begründungs- und Erklärungspraxis des Alltags fort, entwickeln Instrumente, um bestimmte Sachverhalte präziser beschreiben zu können, und Theorien, um Kausalzusammenhänge zu erklären. Damit verknüpfen sie Sachverhalte miteinander, die vorher unverbunden schienen. Wir können sagen, dass die Wissenschaften und die Philosophie einen Beitrag leisten, um die Kohärenz unserer Überzeugungen zu erhöhen.
Ich habe in verschiedenen Schriften für einen unaufgeregten Realismus plädiert. Ein solcher Realismus kommt ohne Metaphysik aus, er muss sich nicht erst rechtfertigen, indem er eine philosophische Theorie dessen, was wirklich ist, entwickelt. Er beruht auf einer Praxis, die wir alle teilen und zu der gehört, dass wir das Bestehen bestimmter Sachverhalte nicht infrage stellen. Diejenigen, die für ihre Überzeugungen absolute Gewissheit suchen, welche die Wissenschaften und die Philosophie bemühen, um alle Zweifel zu zerstreuen, laufen in besonderer Weise Gefahr, in einer radikalen Skepsis oder zumindest im Konstruktivismus zu enden. Zur Unaufgeregtheit des Realismus, für den ich plädiere, gehört, dass wir absolute Gewissheit nicht erwarten und nicht erstreben. Wir können uns irren, in unserer Lebenswelt, in den Einzelwissenschaften, in der Philosophie. Wir können uns bezüglich fast jeder Überzeugung irren. Aber es gibt ein Gefälle subjektiver Gewissheit. Einiges ist gewisser und anderes ist ungewisser, und die Begründungspraxis besteht gerade darin, zwischen dem Ungewisseren und dem Gewisseren einen Zusammenhang herzustellen, der es erlaubt, das Ungewissere unter Verweis auf das Gewissere zu klären. Wir brauchen keine Rechtfertigung für unsere Überzeugung, dass dort ein Baum steht, weil wir keinen Grund haben, daran zu zweifeln. Spätestens seit der frühen Neuzeit ist die Auffassung verbreitet, dass es Aufgabe der Philosophie und der Wissenschaften generell sei, absolute Gewissheit für unsere Überzeugungen zu erreichen. Dass das, was uns sicher erscheint, erst durch die wissenschaftliche und die philosophische Erklärung wirklich gewiss wird. Mit dieser Aufgabenstellung aber würde sich die Philosophie ebenso übernehmen wie die Einzelwissenschaften. Eine solche Erwartung an die Wissenschaften nährt zudem die Ideologie, welche wir als Szientismus bezeichnen können: nämlich die Auffassung, dass wir uns auf unsere Überzeugungen nicht verlassen können, außer es gibt dazu eine wissenschaftliche Theorie. Tatsächlich ist es eher umgekehrt. Die wissenschaftlichen Theorien müssen sich an unseren alltäglichen Überzeugungen bewähren. Eine wissenschaftliche Theorie, die zum Ergebnis kommt, dass wir nicht sicher sein können, dass vor uns ein Baum steht, ist in sich unglaubwürdig. Eine wissenschaftliche Theorie, die bestreitet, dass Menschen verantwortlich handeln können, ist schon deswegen unglaubwürdig. Die gesamte Praxis der wissenschaftlichen Theoriebildung, der innerwissenschaftlichen Verständigung, der Kooperation unter Wissenschaftlern beruht darauf, dass wir uns auf unsere Wahrnehmungen im Großen und Ganzen verlassen
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