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Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Titel: Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Geda
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erzähle vom Krieg und von dem Haus bei den Steineichen, von Iole und Maria.
    »Iole gibt es noch«, sagt sie.
    Elena krallt sich an meine Schulter.
    »In der Ortschaft?«, frage ich.
    Die Ladenbesitzerin lacht: Die Ortschaft gibt es nicht mehr, wissen Sie das nicht? Sie wurde geräumt, für den Stausee.«
    »Für welchen Stausee?«
    »Für den Staudamm. Wie dem auch sei, Iole finden Sie um diese Zeit auf dem Markt. Gehen Sie die Straße entlang und dann nach rechts. Der Ort ist klein, Sie können sich gar nicht verlaufen.«
    »Nein, verlaufen werde ich mich nicht«, sage ich.
    Gegenüber von einem Fußballplatz mit Toren, bei denen die Farbe abblättert, direkt vor dem Tal, stützen sich gegenseitig ein Dutzend Marktstände mit Marmeladen, Stoffen, Käse, Haushaltswaren. Iole streicht Honig auf ein Crostino, reicht es einem Kind, das sich bedankt und davonsaust. Ich erkenne sie sofort wieder. Langsam nähere ich mich ihr. Sie schaut auf und sieht mich, merkt, dass ich sie beobachte. Erst lächelt sie mich an wie einen Kunden. Doch dann verändert sich das Lächeln, verfärbt sich langsam, verrät ein Frühlingserwachen bei Schneeschmelze. Die Umarmung verliert sich in der Zeit. Elena steht im Schatten einer Pinie und sieht uns gerührt zu.
    *
    Iole zeigt uns den Stausee. Wir steigen eine schmale, feuchte Treppe hinauf, die zum Damm führt, und treten bis an den Rand. Das Wasser leckt an den Wäldern, so als hätte der nach unten abfallende Berg den Stausee erst im letzten Moment bemerkt und nicht mehr rechtzeitig bremsen können. Manche Bäume stehen mit ihren Wurzeln und einem Teil des Stamms im Wasser. Das Gras der Wiesen stürzt sich ins Wasser, ohne in Erde oder Sand zu verdorren.
    »Er wurde zwischen 1957 und 1962 gebaut. Dadurch hatte der Ort fünf Jahre lang Arbeit, vielleicht auch länger. Aber der See hat die Ortschaft verschlungen. Wir haben eine Entschädigung und ein Haus im Ort zugesprochen bekommen. Die Tiere haben wir verkauft.«
    »Ich erkenne die Gegend kaum wieder. Wo standen die Häuser?«, frage ich.
    Iole zeigt mit dem Finger aufs Wasser, auf die Stelle, wo der Berg einen Knick macht. »Wenn du eine Handbreit weiter ins Wasser gehst, siehst du sie, fahl wie Ertrunkene. Vor ein paar Jahren habe ich welche auftauchen sehen, als man den Stausee teilweise abgelassen hat, warum, weiß ich nicht mehr. Ich fand den Anblick so furchtbar, dass ich mich abwenden musste. So als hätte man Tote exhumiert.«
    Wir bleiben bei ihr zum Abendessen, reden und sehen uns Fotos an. Sie erzählt uns, dass Maria mit ihrem Mann, einem Gymnasiallehrer, nach Rom gezogen ist. Auch sie war verheiratet, aber es hat nicht gepasst. »Wir waren einfach zu verschieden, haben bloß geheiratet, weil man das halt so macht. Eines Tages hat er außerhalb Arbeit gefunden, und ich habe ihn ermutigt fortzugehen. Anfangs hat er mir noch geschrieben, dann hörte ich nichts mehr. Ich weiß nicht mal, ob er überhaupt noch lebt. Keine Kinder. Stattdessen habe ich angefangen, Honig zu produzieren. Weiter oben gehören mir zwölf Bienenstöcke.«
    Ich erzähle ihr von meinem Vater, von Gabriele. Sie schlägt die Hände vors Gesicht, und eine dicke Träne rinnt ihr über die Wange. Elena berichtet von Agata. Wir haben auch ein Foto im Geldbeutel, das wir ihr zeigen können.
    »Sie kommt ganz nach deiner Frau«, meint Iole.
    »Zum Glück!«, sage ich.
    Wir lachen, und bei diesem Lachen, dort in Colle Ferro, fühle ich mich so wohl, als wäre ich nach Jahren des Umherirrens nach Hause zurückgekehrt. Im Dorf gibt es eine Pension, aber Iole will nichts davon wissen und beherbergt uns bei sich.
    Die Bettwäsche riecht muffig, die Matratze ist voller Beulen, aber ich schlafe so gut wie schon lange nicht mehr. Am Morgen gibt es warmes Brot mit Honig und einen Spaziergang um den See, der uns Appetit macht. Wir bleiben zum Mittagessen und dann noch einen weiteren Tag, anschließend müssen wir uns zwingen abzureisen: Agata kommt vom Meer zurück.
    Iole und ich umarmen uns auf der Schwelle. »Wollten wir nicht heiraten?«, fragt sie.
    Ich lache. »Man soll nie nie sagen.« Ich sehe zu Elena hinüber, die beleidigt tut, Iole dann aber auch umarmt, so als würde sie sie schon ewig kennen. Das ist typisch Elena: Ihr genügen zwei, drei Tage, um sich einem Menschen zu öffnen.
    Agata hat sich amüsiert, sie schildert uns jede einzelne Stunde ihrer Tage am Meer. Und der Name Vittorio fällt öfter als alle anderen. »Hab ich’s dir nicht gesagt?«, meint

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