Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
zusammen.« Er seufzt. »Irgendwie muss ich das noch meinen Eltern beibringen. Anschließend kann ich von mir aus auch Fisch verkaufen.«
Der Kellner stellt den Teller mit den Ravioli vor mich hin und den Amaro vor Mario. Dadurch kann ich mich hinter dem Essen verstecken, Augen, Hände und Gedanken für ein paar Minuten beschäftigen. Ich finde die Kraft, ihn zu fragen: »Wo wohnt ihr?«
»In der Nähe vom Bahnhof«, antwortet Mario. »Und was machst du?«
»Ich bin Berater, mache Controlling, Firmenumstrukturierungen. Und du?«
»Das hier.« Er zeigt auf das Glas.
»Amari?«
»Ich produziere, importiere und verkaufe Kräuterlikör, Mirto , Wein. Ich habe die Firma von meinem Großvater geerbt und vor fünf Jahren noch zwei Weinkeller aufgemacht, einen in Mailand und einen in Rom.
Keine Ahnung, wie ich darauf komme und warum ich damit rausrücke, aber ich sage: »Weißt du, dass Gioele sich für Klebstoffe begeistert hat, als er noch klein war?«
Gioele richtet sich auf. »Und daran erinnerst du dich noch?«
»Wie sollte ich das jemals vergessen?«
»Du hast dich für Klebstoffe begeistert?«
»Irgendjemand hat mir so einen Baukasten geschenkt, eine Art kleinen Chemiebaukasten. Und mir hat es Spaß gemacht, Klebstoffe zu erfinden. Ich hatte für jeden Zweck einen.«
Ich tunke das Ragù mit der Brotrinde auf: »Das kann ich nur bestätigen.«
»Das hast du mir noch gar nicht erzählt!«, sagt Mario.
»Tja, dafür müssen erst alte Freunde kommen, die in Erinnerungen wühlen.«
Ich zahle meine, aber auch ihre Rechnung und verabschiede mich. Wir versprechen, uns wiederzusehen.
*
Wenn ich unter der Woche in Turin bin, weil ich dort zu tun oder frei habe, hole ich Agata von der Schule ab. Wir gehen gemeinsam hin, Elena und ich, und stellen uns vor dem Schultor in die erste Reihe, vor allen anderen Eltern. Sobald es läutet, stürmen die Kinder heraus und beginnen, Vater oder Mutter in der Menge zu suchen. Agata beugt sich zwischen ihren Klassenkameraden und deren Ranzen vor und sieht uns. Ihr Gesicht rötet sich vor Freude. Sie saust auf uns zu, versucht, uns beide gleichzeitig zu umarmen.
Eines Herbsttages fühlt sich Elena nicht wohl, und ich hole Agata allein ab. Eingepfercht zwischen den anderen Eltern warte ich, bis sich das Tor öffnet. Es läutet. Die Kinder strömen dicht gedrängt ins Freie. Da ist Agata. Ich gebe ihr ein Zeichen. Sie beißt sich wie immer auf die Unterlippe und stellt sich auf die Zehenspitzen. Ich strecke den Arm so hoch ich kann, beuge mich vor, um auf mich aufmerksam zu machen. Sie erkennt mich nicht. »Agata!«, rufe ich. Sie hört mich nicht. Zwischen den Köpfen sehe ich, wie sie immer noch Ausschau hält, während ich weiter herumfuchtle. Dabei stehe ich doch ganz vorne in der Reihe, noch vor allen anderen. Ich schiebe mich zwischen den Kindern hindurch, die mich überholen, und gehe bis zur Treppe.
»Agata«, sage ich. »Hier bin ich!«
Es ist die Lehrerin, eine große strenge Frau, die mich bemerkt. Sie berührt den Kopf meiner Tochter und zeigt auf mich. Ich stehe nur wenige Meter von ihr entfernt. Sie scheint mich immer noch nicht zu sehen, doch dann lächelt sie auf einmal und kommt auf mich zu.
»Wo warst du?«, fragt sie.
»Direkt vor dir, Agata. Da. Wo hast du bloß hingeschaut? Ich habe mir fast den Arm ausgekugelt, so sehr habe ich gewinkt. Alles gut?«
»Warum ist Mama nicht da?«
»Sie ist müde. Vielleicht eine Grippe.«
»Ich muss drei Aufgaben rechnen.«
»Drei Aufgaben?«
»Drei Aufgaben.«
»Dann müssen wir uns gleich nachher an die Arbeit machen. Wie wär’s mit einem schnellen Imbiss?«
Sie überlegt und sagt: »Ich hätte gern ein Milchbrötchen.«
»Dann holen wir uns eines. Ich kenne einen Bäcker hinter dem Markt, der macht die besten Milchbrötchen der Welt.«
Elena hütet lange das Bett, keiner weiß, was sie hat. Ich hole Agata immer öfter von der Schule ab, aber jedes Mal habe ich Schwierigkeiten, mich bemerkbar zu machen. Mir ist, als sähe sie durch mich hindurch. Wenn Elena sich wohlfühlt und mitkommt, dann nicht, dann entdeckt Agata uns sofort, wirft sich lachend in unsere Arme, lässt ihren Ranzen auf dem Bürgersteig stehen und rennt einer Klassenkameradin nach. Am Abend erzähle ich ihr eine Geschichte: Der Herr der Reste. Am nächsten Morgen frage ich, ob sie ihr gefallen hat.
»Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern.«
Abends erzähle ich sie ihr erneut, so als wäre es das erste Mal. Das ganze Zimmer wird von
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