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Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Titel: Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Geda
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der Geschichte erfüllt, aber bei ihr bleibt nur ein blasser Widerhall hängen.
    Wir gewöhnen uns an, Milchbrötchen vom Bäcker zu holen. Ich erfinde einen Pfiff, den sie wiedererkennen kann: zwei kurze tiefe Pfiffe, dann einen langen hohen und einen langen tiefen. Wir üben ihn zu Hause. Sie schließt die Augen, und ich verstecke mich. Wenn ich verschwunden bin, pfeife ich. Sie sucht und findet mich, gemeinsam rollen wir über den Boden. Wenn Elena dabei ist, funktioniert es. Ist sie nicht dabei, hört Agata den Pfiff nicht. Ich bitte die Lehrerin, darauf zu achten.
    »Vielleicht pfeife ich zu leise. Zu Hause ist kein Lärm«, erkläre ich. »Vor der Schule gibt es Geschrei, spielende Kinder, Verkehr.«
    »Sie haben Ideen!«, sagt die Lehrerin. »Was, wenn das jeder von mir wollte? Manchmal haben Eltern schon seltsame Vorstellungen.«
    *
    Zwanzig Jahre lang arbeite ich für die Ferroni-Gruppe: Sie ist ich, und ich bin sie. In zwanzig Jahren strukturiere ich in meiner Funktion als Berater über zweihundert Firmen um. Ich stelle mich mit meiner Aktentasche unterm Arm vor, beobachte, lerne, strukturiere um und gehe wieder. Ich durchdringe die Orte, die ich aufsuche, mit meinen Ideen, greife die Industrietradition meiner Vorgänger auf und verändere ihre DNA . Ich gehe durch die Flure, spreche mit den Angestellten. Ich lerne die Phasen des Ledergerbens, des Vertriebs und des Haltbarmachens von Ricotta kennen, den Prozess der Abfallbeseitigung. Aber sobald ich damit fertig bin, verschwinde ich. Ich verdiene gut, sehr gut sogar. Ich kaufe zwei Häuser: eines am Meer, Agata zuliebe, und eines in den Bergen, für Elena und mich. Ich investiere einen Teil meines Geldes an der Börse. Gewinne ziehen weitere Gewinne nach sich.
    Meine Mutter stirbt. Wir begraben sie zwischen meinem Vater und Gabriele. Onkel Marcello liegt zwei Gräber weiter.
    Die Wohnung in Genua wird weder verkauft noch vermietet. Ich gehe von Zeit zu Zeit allein hin. Dann lege ich das Ohr an die Wände, setze mich auf den Boden und werfe Gabrieles Lederball gegen die Wand vor mir: aufdopsen lassen, fangen, werfen. Ich laufe durch die Gassen und lande immer wieder bei den Gleisen. Ich klettere über die Mauer aus Ziegelsteinen und Eisenstangen, die gebaut wurde, um die Leute daran zu hindern, sich den Gleisen zu nähern. Ich setze mich und warte, bis Züge vorbeidonnern. Ich berühre die Schienen und rate, wie viele Sekunden noch fehlen, bis der Triebwagen kommt. Hinter den Fenstern sehe ich verschwommen Augen, Bücher, Jacken. Ich rede mit den Leuten über mich und den Krieg, vor allem mit Leuten, die mich nicht kennen. Wenn sie erfahren, dass ich Jude bin, fragen sie, ob ich die Deportationen miterlebt habe, ob meine Eltern im KZ gestorben sind. »Nein«, antworte ich. Sie sehen mich an, als gäbe es nichts mehr zu sagen. Ich suche Colle Ferro auf der Landkarte. Ich bin nie wieder dort gewesen. Nicht dass ich nicht gewollt hätte, ich habe einfach nicht mehr daran gedacht. Schoss es mir doch kurz durch den Kopf, musste ich ihn nur schütteln, um den Gedanken wieder loszuwerden. Manchmal werde ich geistesabwesend. Ich weiß, dass um mich herum eine ganze Welt existiert, doch ich sehe und höre dann nichts mehr, nehme gar nichts mehr wahr. Mein Vater ist gestorben, als es nichts mehr zu tun gab. Er hat uns in Sicherheit gebracht, was blieb, war eine schwärende Wunde. Gabriele hingegen ging in den Tod, als er alles noch vor sich hatte.
    In Mailand treffe ich mich abends ausschließlich mit Mario und Gioele. Wir gehen in eine Trattoria essen, reden über ganz alltägliche Dinge, plaudern, klatschen. Wenn es im Winter richtig kalt wird, trage ich eine Kopfbedeckung, die mir Mario geschenkt hat: eine Schiebermütze aus irischer Wolle. Eines Abends misst er meinen Kopf, während wir auf den Kaffee und den Amaro warten.
    »Du hast einen kleinen Kopf«, sagt er, »und schöne Haare.«
    »Die Haare habe ich von meinem Vater«, sage ich, nicht ohne hinzuzufügen: »Und auch den Kopf.«
    Agata ist anders, ihr Kopf stammt von Elena. Agata wächst zum Mädchen heran, zur jungen Frau. Sie bringt Freunde mit nach Hause, bittet mich, ihr beim Lernen zu helfen. Aber ich lasse mich ablenken, denke in ihrer Gegenwart an Vorträge, die ich vor der Geschäftsleitung halten muss, oder an Börseninvestitionen. Und wenn ich Vorträge vor der Geschäftsleitung halte oder mir über Börsenkurse Gedanken mache, denke ich an Agatas Hausarbeit über die Renaissance, an die

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