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Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Titel: Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Geda
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Elena.
    »Was?«
    »Hast du ihre Augen gesehen?«
    »Ja.«
    »Und?«
    »Was und?«
    »Ist sie verliebt oder nicht?«
    *
    Es passiert an einem Tag wie jedem anderen, zwei Jahre nach unserem Sommer zwischen Blanquefort und Colle Ferro. Wir sind noch öfter zu Iole gefahren, bestimmt viermal. Einmal, an Weihnachten, kam Agata ebenfalls mit, wenn auch widerwillig. Wäre Elena nicht gewesen, hätte ich sie nie zum Mitkommen bewegen und ihr zeigen können, wo ich meine Kindheit verbracht habe. Wo ich nicht ich sein durfte, wo aus Coifmann Carati wurde. Wir reden immer weniger mit Agata, warum, weiß ich nicht. Ich sehe mich ständig vor ihrer Schule stehen, wild mit dem Arm fuchteln und auf und ab springen, aber sie nimmt mich nicht wahr. »Du hast so was Düsteres an dir«, sagt sie. Und: »Ich sehne mich nach Licht.« Vielleicht hat sie ja recht.
    Aber der Tag, an dem Elena stirbt, ist nicht düster. Es ist ein Tag wie jeder andere. Wir sind zu zweit in den Bergen, das Gras ist noch feucht von der Nacht, und die Sonne erklimmt die Gipfel. Ich bin in der Küche, presse eine Zitrone aus. Elena ist kurz Brioches und ofenfrisches Brot kaufen gegangen. Ich sehe, wie sie den Weg hochkommt. Zwischen Holz und Vorhang rahmt das Küchenfenster den mineralischen Rücken der Alpen, einen Tannenwald, Teile der Dorfdächer, die Wegkurve, die zu unserer Wiese führt, und die Wiese mit zwei in Richtung Sonnenuntergang zeigenden Liegestühlen ein. Ich presse die Zitrone aus, schaue auf und sehe, wie sie in den Gartenweg einbiegt. Ich bücke mich, um die ausgepresste Zitrone in den Müll zu werfen, blicke erneut auf und sehe sie auf den Knien, die offene Tüte neben ihr, Brioches und Brot liegen im Gras.
    Eine Hand ist eine Wurzel in der Erde. Mit der anderen greift sie sich ans Herz.
    Erst kommt die Kälte. Sie breitet sich in Knochen und Muskeln aus, lässt mir das Blut gefrieren. Die Adern transportieren sie an die Hautoberfläche. Dann die Hektik: das Telefon, die erstickte Stimme in der Sprechmuschel, das überwältigende Gefühl von Ohnmacht. Anschließend die Fahrt im Krankenwagen. Der Versuch, den Gesichtern der Ärzte und Krankenschwestern irgendeine Information zu entlocken, der Warteraum, die Formalitäten.
    Am Ende ist es wie nach einem Abfahrtslauf: die Hand eines Unbekannten auf der Schulter, ein Glas mit heißem Tee. Und diese unerforschliche Leere. Unausfüllbar, unerwartet. Anrufe bei Agata, bei ihrer alten Mutter, bei einem alten Freund, bei einem Kollegen, damit er allen Bescheid gibt, die sie kannten.
    *
    Wieso fällt das Leben um mich herum in Stücke?
    Um mich herum.
    Nicht auf mich.
    Um mich herum.
    *
    Ich muss wieder ins Büro. Ich habe seit über fünf Monaten Sonderurlaub. Agata ist zu Vittorio gezogen. »Ich bekomme Bauchschmerzen, wenn ich die Wohnung betrete«, sagt sie. »Und warum stehst du immer draußen auf dem Balkon?«
    Sie hat recht. Ich verbringe viel Zeit auf dem Balkon. Der Balkon gefällt mir. Die Hausdächer, Schornsteine, Antennen gefallen mir. Die Gespinste aus Kabeln. Die Vögel, die mich beobachten, während ich ihre Flugbahn verfolge.
    Zwischen den Häusern kann man die Berge sehen. Ich verbringe Stunden damit, sie zu betrachten.
    Wenn das Licht stimmt, spiegeln sie sich in den Fenstern einer Bank. »Was gibt es dort oben eigentlich zu sehen?«, fragt Agata. »Meine Mutter ist in den Bergen gestorben, ich möchte nie wieder in die Berge, kann ihren Anblick nicht ertragen. Ich will ans Meer ziehen.« Und dann: »Vittorio und ich überlegen, gemeinsam fortzugehen. Seinem Vater gehört ein Restaurant auf Sizilien, dort gibt es den besten Fisch der ganzen Region. Wir überlegen, es zu übernehmen. Seinem Vater wird es langsam zu viel. Was hältst du davon?«
    Manchmal falle ich durch den Balkonboden bis in den dritten Stock, wo sich eine alles bedeckende Kletterpflanze an den Rauten eines Gitters emporrankt. Im Fallen werfe ich nie einen Blick in fremde Wohnungen, in fremde Fenster. So etwas tut man nicht. Ist der Wohnungsbesitzer allerdings auf dem Balkon und arbeitet dort, bin ich machtlos.
    »Hast du gehört, was ich sage?«, fragt Agata.
    Ich tauche aus meiner Benommenheit auf. »Wie bitte?«
    Agata sieht mich verächtlich an, warum, weiß ich nicht. »Unglaublich!«, sagt sie und geht kopfschüttelnd zurück in die Wohnung.
    Zwei Monate später bricht sie mit Vittorio nach Sizilien auf. Sie haben einen Transporter, den sie randvoll beladen: Bücher und T-Shirts stecken in jeder Ritze, Kissen

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