Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
und Michele waren nicht da, befanden sich kurz vor einem wichtigen Spiel im Trainingslager des Capo Galilea Football Club. Dort hätte ich eigentlich auch sein sollen, aber dafür war es jetzt zu spät. Das Restaurant brummte. Meine Eltern wurden vom Alltag eingeholt: einkaufen, eindecken, kochen. Meinem Vater ging es sichtlich gut. Er hatte wieder mehr Farbe bekommen, klagte nicht mehr über extreme Erschöpfung und kaufte sich sogar Turnschuhe, um morgens joggen zu gehen.
Eines Sonntagnachmittags – er lag gerade auf dem Sofa und las – sagte ich, ich wolle mit dem Rad zum Caddusu. Er ließ das aufgeschlagene Buch sinken, griff nach dem Glas Heidelbeersaft auf dem Boden, trank daraus und sah mich lange und durchdringend an. Eine Kernbohrung.
»Habe ich irgendwas getan?«
»Nein. Ich bin derjenige, der etwas tun muss: Ich muss mich entschuldigen, und zwar bei dir.«
»Warum? Du hast doch gar nichts gemacht.«
»Du hast das Sakristeifenster nicht eingeworfen. Du warst das nicht, so was hättest du niemals getan, und das hätte ich wissen müssen.«
In meinem Bauch platzte eine Blase, aus der Luft entwich, die bis zu den Schultern aufstieg und meine Rückenmuskeln lockerte.
»Ich habe heute Morgen Don Luciano getroffen, der dir ausrichten lässt, dass du dich mal wieder blicken lassen sollst, warum, weiß ich nicht. Aber wie dem auch sei: Ich habe ihn getroffen, und wir sind stehen geblieben, um ein bisschen zu plaudern. Irgendwann haben wir uns verabschiedet, und da hat er angefangen zu strahlen, so wie er immer strahlt: als würde ein Licht in seinen Augen angeknipst. Er strahlt also und sagt, dass ich dir seine Entschuldigung überbringen soll, denn im August – besser konnte er mir das nicht erklären – sei der Laufbursche vom Celima, der Michele, Salvo und einen Dritten beschuldigt hat, zu ihm gekommen, um ihm zu beichten, dass er sich alles bloß ausgedacht habe.« Bei diesen Worten musterte er mich verstohlen.
»Was für ein Scheißkerl!«
»Zeno.«
»Entschuldige.«
»Er hat den Stein geworfen und euch, besser gesagt Michele und Salvo, beschuldigt, um sich für einen Streich zu rächen. Anscheinend machen sie sich über seine schlechten Augen lustig.«
»Alle machen sich über ihn lustig.«
»Du auch?«
»Na ja, manchmal schon.«
Vater wurde leiser. »Glaubst du, er kann was dafür, dass er so schlecht sieht? Oder ist das nicht vielmehr ein Grund, ihm zu helfen?«
»Ja.«
»Was ja?«
»Ich habe einen Fehler gemacht.«
»Genau wie ich. Deshalb entschuldige ich mich bei dir, erwarte aber, dass du das Gleiche tust.«
»Ich soll zum Laufburschen gehen und mich bei ihm entschuldigen?«
»Hast du ein Problem damit?«
»Er hat …«
»Du wolltest gerade mit dem Rad los. Celima hat geöffnet. Wenn du dort vorbeifährst, wirst du ihn antreffen.«
»Jetzt gleich?«
»Warum nicht?«
»Aber …«
»Zeno.«
»Aber er hat schließlich … Er hat gesagt …«
»Er hat gelogen und wird sich vor Michele und Salvo rechtfertigen müssen, wenn er den Mut dazu hat. Aber auch sie sollten sich bei ihm entschuldigen, so wie du es heute Nachmittag tun wirst.«
Stöhnend suchte ich nach einem Ausweg.
»Einverstanden?«
Ich fuhr mit dem Rad zu Celima und entschuldigte mich beim Laufburschen. Wo ich schon mal in der Nähe war, schaute ich auch bei Don Luciano vorbei, den ich nach meiner Rückkehr nach Capo Galilea noch gar nicht gesehen hatte. Er erteilte mir die zweite Absolution, weil ich die Tat nicht begangen hatte, und versprach, die von uns dreien im Juni geleistete Arbeit im Pfarrhaus zu bezahlen.
»Nach einer ungerechtfertigten Strafe muss es eine Wiedergutmachung geben«, erklärte er.
Das konnte ich nicht verneinen.
Er bat mich auch, an der Prozession zu Ehren der heiligen Rosalia am vierten September teilzunehmen. Das ist ihr Sterbedatum und hat nichts mit dem Fest zu tun, das am vierzehnten Juli in Palermo stattfindet und zu dem mich Opa Melo mitgenommen hat, als ich noch klein war. Dort beginnt die Prozession am Normannenpalast und führt bis ans Meer, sozusagen vom Tod (wegen der Pest) zum Leben. Bei uns in Capo Galilea gab es keinen von Ochsen gezogenen Prunkwagen mit der Heiligenstatue und kein Feuerwerk. Nur einen Menschenring, der von der Kirche über den Hafen und das Rathaus bis zur Blauregen-umrankten Ädikula der Heiligen an der Porta Sant’Agata reicht. Warum die Sant’Agata heißt und nicht Santa Rosalia, weiß ich nicht. »Ich brauche einen jungen Mann wie dich, der die
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