Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
Fahne trägt. Würdest du das tun?«
Schweren Herzens – denn es gibt nichts Langweiligeres als die endlosen Litaneien bei einer Prozession – zwang ich mich zu einem liebenswürdigen Lächeln und willigte ein.
Zwei Tage vor Schulanfang fuhren mein Vater und ich zum Fischen hinaus. Wir standen noch vor Sonnenaufgang auf und bemühten uns, keinen Lärm zu machen: Würmer, Angelruten, Kescher, K-Way. Uns erfüllte eine stille Vorfreude. Wir wechselten kein einziges Wort, bis das Boot im Wasser war. Als er dann im Bug saß und ruderte, gab er mir irgendwann stumm mit Blicken und Kinn zu verstehen, dass ich mich umsehen solle: Capo Galilea war ein einziges Zurückweichen der Berge und die Straßenlaternen die Fackeln eines Kreuzwegs.
Mein Vater stoppte das Boot dreihundert Meter vor der Küste hinter einer Landzunge, genau an derselben Stelle wie damals. Alles lag reglos da. Ich hockte in einer Ecke des Bootes, um die Angelschnur zu präparieren, während er dastand und das Meer betrachtete. Ich nahm einen dicken Wurm aus der Dose. Es bedurfte mehrerer Würfe, bis ich etwas fing, doch dann war es ein anständiger Seebarsch, der in Salzkruste und unter den besonnenen Händen meiner Großmutter hervorragend schmecken würde. Mein Vater hielt wie immer mit dem Wasser Zwiesprache, indem er ruckartig an der Schnur zog. Auf einmal zog sie ihn nach unten, und zwar so sehr, dass er sich mit den Füßen dagegenstemmen musste. Noch so ein Ruck. Ich ging zu ihm, um ihm zu helfen. Wir beugten uns beide vor. Was, zum Teufel, war denn das?
»Hol den Kescher!«
Ich gehorchte, und genau in diesem Moment zog mein Vater mit einem Ruck den Fisch heraus, und ich fing ihn auf. Es war eine über drei Kilo schwere Brasse, ein Riesenexemplar für diese Spezies, aber nichts im Vergleich zu dem, was ich mir vorgestellt hatte: Ich dachte, er kämpfte mit einem Wal.
»Das ist eine Bodybuildingbrasse«, sagte ich.
»Oder aber ich bin so schwach.«
Ich musterte ihn. »Nun, dann kann ich dich ja vielleicht schlagen.«
»Worin?«
»Vielleicht im Armdrücken. Zum ersten Mal.«
»Darauf würde ich mich nicht verlassen.«
»Wollen wir wetten?«
»Ach, komm schon her, jetzt sofort!« Er bückte sich und legte den Arm auf die Bank.
Es kam der Herbst – auch wenn man in Sizilien nicht wirklich von Herbst sprechen kann –, der Schulbeginn und damit auch das Gefühl von Unzulänglichkeit, das die Anforderungen meiner Lehrer in mir hervorriefen. Ich ertrug die Hausaufgaben und das Lernen nur, weil sie mir den Familienfrieden garantierten. In allen Fächern hatte ich nur das Ziel, ein Ausreichend zu schaffen. Ich ertrug die endlosen Vormittage auf der Schulbank, aber nur weil ich in den Pausen auf den Hof durfte – eine große Wiese, die von Antonio Rovigni, einem pensionierten Metzger und ehrenamtlichen Gärtner, gepflegt wurde, und die wir Jungs dreimal am Tag bei unseren wilden Wettrennen umpflügten, um sie am Tag darauf wieder geglättet vorzufinden. Denn dann sah ich Marilena, das Mädchen aus der Schule, das mich am meisten an Luna erinnerte. Deren Adresse hing an meiner Pinnwand über dem Schreibtisch und sollte dort auch fast fünf Jahre hängen bleiben, ohne dass ich je den Mut aufgebracht hätte, ihr zu schreiben. Meine Adresse kannte sie nicht. Als ich eines Tages von der Schulabschlussfahrt nach Madrid zurückkam, hing sie nicht mehr dort, wo sie immer gewesen war, nämlich zwischen einer Postkarte von Dylan Dog mit einem Autogramm von Corrado Roi und einem Mondmotiv von Moebius. Mama behauptete, nichts damit zu tun zu haben. Signora Eliana, die ihr seit einigen Jahren im Haushalt zur Hand ging, sagte, sie habe ebenfalls nichts damit zu tun, und mein Vater natürlich erst recht nicht. Vielleicht waren es ja die Eidechsen gewesen, die zum Fenster hereinkamen, wenn es kalt wurde. Ich fragte auch sie, aber sie waren ziemlich wortkarg.
Ich kehrte noch viermal zu Großvater nach Colle Ferro zurück. Nicht im darauffolgenden Sommer: Meine Eltern hatten beschlossen, eine Reise nur zu dritt zu unternehmen. Und so bestiegen wir ein Flugzeug nach Spanien, wo wir ein Auto mieteten, ausgiebig damit herumfuhren, Granada und die Alhambra, Córdoba und die Mezquita besichtigten, um schließlich über Bilbao und Santiago di Compostela den Heimweg anzutreten. Und auch nicht in dem Sommer danach, den ich in Brighton, England, bei einer Familie verbrachte, um mein miserables Englisch zu verbessern. Dort verliebte ich mich unsterblich in ein
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