Der Sommer auf Usedom
dem Fußabtreter hängengeblieben.
»Hoppla«, sagte die Tresen-Matrone.
»Guten Tag«, antwortete er, als sei »Hoppla« eine gängige Begrüßungsformel.
»Möchten Sie auch noch an der Führung teilnehmen?«
»Ja, gerne, deswegen habe ich mich so beeilt.« Jasmin beobachtete, wie der Mann sich verstohlen Schweiß von der Stirn und seiner Oberlippe tupfte.
»Sie haben Glück. Es geht in einer Minute los, und es ist gerade noch ein Platz frei.«
Kaum hatte er seine Eintrittskarte bezahlt und entgegengenommen, wurde die Tür erneut geöffnet und lenkte alle Aufmerksamkeit der Wartenden auf die eintretende Person. Es handelte sich um eine kleine, sehr schlanke Frau. Sie trug ein weißes schwingendes Sommerkleid mit hellblauem Gürtel, dazu hellblaue Ballerinas und hatte schwarzes Haar. Wäre es goldblond gewesen, hätte Prinz Eisenherz diese Frisur tragen können. Der Pony war sorgsam zu einer Rolle nach innen geföhnt, ebenso dieetwa kinnlangen Seitenpartien. Sie sah aus wie Schneewittchen, ging es Jasmin durch den Kopf. Schneewittchen stellte sich als Museumspädagogin vor, die nun die Führung durch das Haus von Niemeyer-Holstein leiten würde. Sie habe in Berlin Museumskunde studiert, sprudelte sie los. Im Brüder-Grimm-Haus in Steinau an der Straße habe sie schon gearbeitet und Erfahrungen im Chopin-Museum in Warschau gesammelt, worauf sie besonders stolz zu sein schien.
»Sie sehen, ich bin nicht auf Maler festgelegt«, verkündete sie und lachte melodisch. Jasmin hoffte, dass sie auch über ONH so viel würde erzählen können.
»Wir beginnen draußen«, sagte Schneewittchen und verließ auch schon den Wintergarten. In dem kleinen Park zwischen den Kunstwerken, die Freunde dem Maler geschenkt oder gegen Bilder getauscht hatten, begann sie mit ihrem Vortrag. Jasmin ließ sich von einem Eichhörnchen ablenken, das an den Zweigen eines Baumes turnte wie ein Artist, schließlich von einem Ast zum nächsten hüpfte und sich über den flachen Teil des Hausdaches davonmachte.
»Niemeyer-Holstein hat also nicht gleich ein Haus gebaut, sondern sich zunächst in einem S-Bahn-Wagen eingerichtet«, hörte sie Schneewittchen sagen und konzentrierte sich wieder auf die Führung, was ihr an diesem herrlich-sonnigen Junitag furchtbar schwerfiel. Außerdem gab es so viel zu sehen. Etwa die kleine Skulptur eines Reiters oder die eines nackten Mannes, vermutlich ein Diskuswerfer, dessen rechtes Bein von dem kräftigen Trieb eines Strauches mehrmals umschlungen war, als wolle die Pflanze den Sportler daran hindern, jemals aus ihrer Nähe zu verschwinden. Diesen S-Bahn-Wagen, den der Künstler 1932 für etwas über sechzig Mark gekauft und auf abenteuerliche Weise – das gute Stück hatte nämlich keine Räder mehr – hierhergeschafft hatte, gebe es noch, und man werde ihn auch betreten, drang die melodische Stimme der Museumspädagogin in Jasmins Bewusstsein.
»Sie können sich vorstellen, dass es etwas eng ist. Ich bitteSie darum, gut darauf zu achten, wohin Sie treten. Und bitte nehmen Sie Rücksicht auf die anderen Teilnehmer der Besichtigung.« Wie viele Male mochte die Frau diesen Satz gesagt haben? Und wie recht sie damit hatte! Eng war eine glatte Untertreibung. Der ausrangierte Wagen mit seinem gewölbten Dach und den Schiebetüren war im Laufe der Jahre umbaut worden und bildete so den Mittelpunkt des Hauses. Jasmin war vollkommen fasziniert von den Gegensätzen, die hier zu ahnen waren. Im Winter mochte es nahezu unmöglich sein, dieses ungewöhnliche Gebäude warm zu kriegen. Die Küche war so winzig und spärlich eingerichtet, dass schon die Vorstellung, hier ein Mittagessen zuzubereiten, ihr Respekt vor der Dame des Hauses einflößte. Gleichzeitig wirkte alles so luftig und beinahe mediterran. Von dem Waggon ging es in eine Art Innenhof, in dem ein alter Olivenbaum seine knorrigen Äste mit den silbrigen Blättern von sich streckte. Wie schön musste es sein, an einem milden Tag wie diesem hier zu sitzen, ohne die Menschen natürlich, sondern ganz allein mit einer Staffelei und einer Farbpalette. Jasmin seufzte. Ja, an einem solchen Ort konnte man sich wahrhaft entfalten und sein ganzes kreatives Potential ausschöpfen. Sie sah sich selbst dort hocken und malen und die Zeit darüber so sehr vergessen, dass sie nicht einmal Lust auf Kuchen bekäme. Leider sah die Realität anders aus. Wenn sie nicht im Urlaub war, verbrachte sie ihre Tage streng nach der Uhr und hinter dem Schreibtisch in einer
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