Der Sommer deines Todes
und kriege Gewissensbisse.
Jetzt entsinne ich mich wieder, warum ich heute Morgen vergessen habe, ihn einzucremen: Ich habe nur an den Job in London und das viele Geld gedacht, das wir so gut gebrauchen könnten. Seit Jahren reibe ich mich zwischen Studium, Arbeit und Familie auf, ohne auf einen grünen Zweig zu kommen.
Dieser geheimnisvolle Kroll-Auftrag, wo wir erst erfahren, was uns erwartet, wenn wir dort sind, ist mir genau so suspekt wie Mac. Aber dreißigtausend Dollar? Die Hälfte davon im Voraus? Und die Zusicherung, dass alle Unkosten für unseren Trip nach Europa übernommen werden? Mac hat die ganze Nacht über das Angebot nachgedacht und deshalb kaum geschlafen.
Ich fische mein Handy aus der Hosentasche und rufe Mac an, der einen weiteren Tag auf der Madison Avenue ausharrt, um sicherzugehen, dass er Cathy Millerhausen nicht übervorteilt. Mac ist ein guter Mensch, ein guter Privatdetektiv. Manchmal zu gut, denke ich mit einem Anflug von Groll.
«Hallo», meldet er sich.
«Sollte Godfrey heute Abend wieder nach Connecticut rausfahren, folge ihm bitte nicht.»
Mac schweigt. Im Hintergrund ist eine Kakophonie aus Hupen, Stimmen und Sirenen zu hören.
«Es ist jetzt fünf vor halb sechs», sage ich. «In ein paar Minuten kommt er raus, steigt in seine Limousine und fährt weg. Ob er in seinem Haus oder Apartment übernachtet, macht keinen Unterschied.»
«Sehe ich auch so», meint Mac schließlich.
«Hast du Cathy angerufen?»
«Ich habe es zumindest ernsthaft in Erwägung gezogen.»
«Überleg nicht länger, tu’s einfach.»
«Da kommt er.» Mac verstummt. So wie ich ihn kenne, geht er in Deckung, damit Millerhausen keine Notiz von ihm nimmt. Kurz darauf sagt Mac: «Er ist weg.»
«Steig nicht ins Taxi. Fahr ihm nicht hinterher. Ich fände es schön, wenn wir uns heute Abend zusammen mit den Kindern das Independence-Day-Feuerwerk ansehen würden.»
«Wann geht es los?»
«Neun Uhr, am East River.»
«Klingt gut.»
«Lass uns nach London fahren.»
Er zögert kurz und sagt dann: «Ich rufe jetzt gleich Cathy Millerhausen an und setze sie über den Stand der Dinge in Kenntnis. Vielleicht gelingt es mir, ihre Befürchtungen zu zerstreuen. Und hinterher rufe ich Lacie Chen bei Kroll an und sage zu.»
Noch bevor ich auflege, bessert sich meine Stimmung, und das Gefühl der Monotonie, unter dem ich die letzten Tage gelitten habe, lässt nach. Heute ist auch mein Unabhängigkeitstag. Ich schnappe mir den Besen, fege die Scherben auf dem Boden zusammen und denke:
London
. Und dann muss ich plötzlich an ein Buch denken, das Mac gelesen hat.
Überall, nur nicht hier
– dieser Titel hat mich seltsamerweise unangenehm berührt, und erst jetzt begreife ich, warum.
Nachdem ich gekehrt und das Chaos auf der Küchentheke beseitigt habe, trete ich in die Tür und mustere gedankenverloren die Kinder. Ben und Dathi stecken kurz die Köpfe zusammen. Die beiden Teenager lachen über eine Szene, und Fremont wirft Dathi über Bens Kopf hinweg einen schelmischen Blick zu, woraufhin sie die Augen verdreht.
Die Kinder.
London.
Wie lange können Mac und ich die Kinder mit gutem Gewissen allein lassen?
Oder muss ich am Ende doch daheim bleiben?
Werden meine Mutter oder Mary sich bereit erklären, hier zu wohnen, solange wir weg sind?
Wie kriegen wir es hin, damit alle etwas von diesem scheinbar endlos langen Sommer haben?
Ich fange an zu rechnen.
Eine Woche scheint mir völlig okay zu sein, aber ist so ein kurzer Aufenthalt den weiten Flug wert? Nach einer Woche hat man ja noch nicht einmal den Jetlag überwunden. Zwei Wochen oder besser noch drei wären genau der richtige Zeitraum, um sich zu erholen und Abstand zum Alltag zu bekommen.
Als könnte Ben meine Gedanken lesen, dreht er sich um und sieht mich an, was mich sehr anrührt. «Hallo, Mami!» Eine Sekunde später konzentriert er sich schon wieder auf den Film, doch da ist es schon um mich geschehen. Weil ich eh nicht in der Lage sein werde, meinen kleinen Jungen so lange allein zu lassen, kann ich die ganze Sache vergessen.
Ich rufe Mac an.
«Eine Minute später und du hättest mich nicht mehr erwischt, weil es in der U-Bahn kein Netz gibt.»
«Ich kann dich nicht nach London begleiten.»
Er stößt einen lauten Seufzer aus. «Ich dachte, du bist schon ganz aus dem Häuschen vor lauter Vorfreude.»
«Das war ich auch, aber jetzt bin ich unsicher. Die Kinder …»
«Wir nehmen sie mit», sagt er ganz spontan.
«Nach London? Während du
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