Der Sommer der Frauen
damals so dringend aus Boothbay Harbor wegmusste. Weg von den Blicken, weg von all dem «O nein, du hattest doch dein ganzes Leben vor dir!» – als hätte sie eine Bank überfallen und wäre zu Gefängnis verurteilt worden. Und weg von … von der Missbilligung ihrer Tante, falls Missbilligung das richtige Wort dafür war. June war Jasper unendlich dankbar für die kleine, billige Personalwohnung direkt über dem Laden. Der Buchladen lag in der quirligen Exchange Street im alten Hafen von Portland und fügte sich dort zwischen viele andere individuelle Geschäfte und wunderbare kleine Restaurants und Cafés. In dieser Wohnung konnte sie ihren Sohn aufziehen, dank der unmittelbaren Nähe zum Laden und dank ihrer wunderbaren Nachbarin, einer netten Dame im Großmutteralter, die auf Charlie aufpasste, wann immer es nötig war. Und natürlich dank Jasper, der sie erst zur stellvertretenden Geschäftsführerin und dann zur Filialleiterin befördert hatte. June liebte Books Brothers, sie liebte den Geruch der Bücher, sie liebte es, Kunden bei der Suche nach einem Geschenk oder einem Buch für sich selbst zu beraten und die Hinweiskarten mit ihren persönlichen Empfehlungen zu schreiben. Sie liebte den verschrammten Holzboden, die runden, geflochtenen Flickenteppiche, die plüschigen Sofas, wo die Kunden sich niederlassen und auch gerne ein Buch lesen durften, ob sie es danach kauften oder nicht.
«Na, Jasper, sitzt du wieder über den Zahlen?» Jasper hatte in den letzten Monaten mehr als einmal erwähnt, dass ihm der Umsatzrückgang ziemliche Sorgen machte, und June hatte diverse Initiativen ergriffen, um das Geschäft anzukurbeln: Autoren-Lesungen von zwei Schriftstellern aus Maine und zwei Bestseller-Lesungen, drei Buchclubveranstaltungen, eine Kaffeemaschine und drei kleine Cafétische. Und Vorlesenachmittage in der Kinderbuchabteilung. Die Umsätze waren gestiegen. Zumindest ein wenig.
Jasper sah sie einen Moment lang an. Dann setzte er sich auf den Stuhl, der sich in die kleine Lücke zwischen ihrem Schreibtisch und der Wand quetschte. «June, es bringt mich fast um, das jetzt tatsächlich laut aussprechen zu müssen, aber Henry und ich sind, was die Portland-Filiale betrifft, zu einer Entscheidung gelangt. Wir müssen schließen.»
June sprang auf. «Was? Ihr wollt den Laden hier aufgeben?»
«In ein paar Monaten werden wir nicht mal mehr in der Lage sein, die Miete und die Fixkosten zu zahlen. Wir müssen der Wahrheit ins Auge sehen und dichtmachen. Vielleicht können wir dafür in Boothbay erweitern. Dem Stammladen geht es gut, weil uns das Haus gehört und wir eine von nur zwei Buchhandlungen am Ort sind. Der Stammladen ist natürlich Henrys Baby, und das schaukelt er von seinem Boot aus auch ganz wunderbar, aber ich bin mir trotzdem sicher, dass er dich als Geschäftsführerin nehmen würde. Du weißt, dass wir dich nie einfach so fallenlassen würden.»
O nein! Nein, nein, nein, nein, nein! Die Filiale von Books Brothers in Portland schließen, einen Fixpunkt auf der Exchange Street? Ihren über alles geliebten Buchladen?
Und außerdem: Geschäftsführerin in Boothbay? Schlimm genug, dass sie morgen Abend zum Familienessen musste. Die Vorstellung, ihrer reichen Schwester plus Edward, ihrem selbstgefälligen Schwager, zu begegnen, ihrer Cousine Kat, der nie etwas entging, und der schweigsamen, nüchternen Lolly, die weiter ihren Geschäften nachgehen würde, als wären ihre Nichten nicht anwesend, und den ganzen Abend mit ihren Pensionsgästen vor dem Fernseher sitzen würde, anstatt die Zeit mit ihnen zu verbringen, war sowieso schon unerträglich – aber nachdem sie gerade ihren Job verloren hatte? «Drei Jahre Elite-Uni, und du sortierst immer noch Bücher, June?», hatte der schmierige Edward bei ihrer letzten Begegnung zu Weihnachten nicht nur einmal zu ihr gesagt. «Du könntest doch sicher wenigstens Redakteurin bei einem Regionalmagazin wie
Portland
oder
Down East
werden.» Klar. Der Schritt vom Regalesortieren in eine Zeitschriftenredaktion war ein Katzensprung. Den Traum von der Redakteurin hatte June in dem Augenblick aufgegeben, als eine sichere Anstellung, ein regelmäßiges Einkommen und eine günstige Wohnung unentbehrlich geworden waren. Und außerdem sortierte sie keine Regale. Sie war Geschäftsführerin. «Ach, entschuldige bitte,
Geschäftsführerin
», sagte ihr schmieriger Schwager dann mit süffisantem Schnauben.
Sie konnte kaum noch glauben, dass sie irgendwann mal – damals,
Weitere Kostenlose Bücher