Der Sommer der Frauen
Books-Brothers-Filiale in ihrer Heimatstadt Boothbay Harbor an der Kasse gestanden. Pauline, von June als Jahrgangsbeste um ein Haar beim Rennen um das Privileg als Abschlussrednerin ausgestochen, war mit dem Studienführer zur Vorbereitung aufs Jurastudium und weit geöffnetem Mund an die Kasse gekommen. «O mein Gott, Juney! Du bist schwanger? Und
wie
! Dann war’s das wohl erst mal mit der Columbia University, oder?»
Was du nicht sagst!
, hatte June gedacht und wäre am liebsten hinter den gerade eingetroffenen Kisten mit Neuerscheinungen im Erdboden versunken. Sie würde zwar ihr Abschlussjahr verpassen, aber ganz sicher nichts vermissen, wenn sie daran dachte, wie einsam und verlassen sie sich im letzten Semester in New York gefühlt hatte. Sie war im November schwanger geworden, hatte es aber erst am Anfang des Sommersemesters gemerkt. Und als es dann klar war, hatte sie nichts anderes mehr im Kopf gehabt als ihre Schwangerschaft – und die Suche nach dem Vater ihres Kindes.
Pauline hatte mit einem einzigen Blick den nackten Ringfinger an Junes linker Hand erfasst und triumphierend gerufen: «Ich kann nicht fassen, dass ausgerechnet
du
schwanger bist! Ich dachte, du hättest längst irgendein irre tolles Volontariat bei einem schicken Hochglanzmagazin oder einem Verlag und wärst auf direktem Weg in die Chefredaktion von
The New Yorker
.» Hinter ihr stand bereits der nächste Kunde, und Pauline hatte ihr Buch in die Tasche gesteckt und gesagt: «Gott, es ist immer wieder erstaunlich, dass selbst die klügsten Köpfe die dämlichsten Fehler machen.» Und damit waren Pauline und ihr flacher Bauch und ihre abgeschnittene Jogginghose mit dem Schriftzug YALE quer über dem Hintern in ihren Flip-Flops zur Tür hinaus verschwunden.
June hatte um eine kurze Pause bitten müssen – von denen sie damals von ihrem unglaublich netten Chef so viele bekam, wie sie brauchte – und sich aufs Klo verzogen. Dort hatte sie sich auf den geschlossenen Deckel gesetzt, die Augen zugemacht und versucht, weiterzuatmen. Sie hatte keinen dämlichen Fehler begangen. Auch wenn es für alle anderen so aussah.
Und jetzt, sieben Jahre später, versteckte sie sich schon wieder im Hinterzimmer, obwohl die Books-Brothers-Filiale in Portland wenigstens ein erheblich größeres Büro besaß als der winzige Stammladen in Boothbay Harbor, den June aus verschiedenen Gründen nur noch selten besuchte. Der Hauptgrund war, dass es in der Kleinstadt, aus der sie stammte, nur so wimmelte von Pauline Altmans, die June alle als Jahrgangsbeste mit riesigen Ambitionen in Erinnerung hatten, die davon träumte, die Verlagswelt von New York umzukrempeln, sich dann aber von einem Two-Night-Stand hatte schwängern lassen und die letzten sieben Jahre als Alleinerziehende mit einem Job in einer kleinen Buchhandlung verbracht hatte.
Wenigstens war sie inzwischen Filialleiterin. Das Geld reichte gerade eben, um die Rechnungen zu bezahlen und jeden Monat ein bisschen was für Notfälle zur Seite zu legen. Für Charlies College-Fonds war zum Glück gesorgt.
Außerdem hatte sie Charlie. Der sie täglich daran erinnerte, was im Leben wirklich wichtig war. Auf Pauline und ihre Meinung konnte sie pfeifen. Und darauf, den vielen Was-wäre-Wenns hinterherzujammern. Dies war ihr Leben, und es war gut – nein,
toll
, sie hatte ein tolles Kind und tolle Freunde und einen Job, den sie liebte. June fasste ihre langen, kastanienbraunen Locken im Nacken zu einem Knoten zusammen und schob zur Befestigung einen Bleistift mittendurch. Dann setzte sie sich in ihrem winzigen Büro an den Schreibtisch und schrieb sich einen Klebezettel, um nicht zu vergessen, noch eine Kleinigkeit zu essen zu besorgen für Charlie und seinen neuen Freund, den er heute aus der Ferienbetreuung zum Spielen mit nach Hause brachte. Die Vorstellung, wie die Kinder auf dem Mond-und-Sterne-Teppich in Charlies Zimmer saßen, Lego-Roboter bauten und an ihren Käsestangen knabberten, entlockte ihr ein Lächeln.
«Ach, June, da steckst du!», sagte Jasper Books, als er aus seinem Büro kam, das direkt an ihres grenzte und noch kleiner war, weil er nur zweimal pro Woche in den Laden kam. Jasper war Mitte dreißig, groß und sehr elegant und der Eigentümer von Books Brothers (gemeinsam mit seinem Zwillingsbruder Henry, der den Stammladen in Boothbay führte). June hatte ihm viel zu verdanken. Ihnen beiden. Jasper hatte ihr sofort einen Job als Buchhändlerin in der Filiale in Portland angeboten, als sie
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