Der Sommer der Frauen
Großeltern.»
Sofort hellte sich Charlies Gesicht auf. «Okay.»
June hatte keine Ahnung, wie sie John nach so vielen Jahren plötzlich finden sollte, schließlich war ihre Suche schon damals völlig erfolglos geblieben. Aber sie musste es wenigstens versuchen. Vielleicht kannte Edward jemanden, einen Anwalt oder einen Privatdetektiv. June war sich sicher, dass sie ihm morgen Abend zu Tante Lollys großer Ankündigung im Three Captains’ Inn begegnen würde.
Tante Lollys Ankündigung … das hatte sie bei all dem Trubel heute fast vergessen.
Vielleicht verkauft sie die Pension
, dachte June mit ziemlich gemischten Gefühlen. Sie hatte im Three Captains’ Inn die traurigste Zeit ihres Lebens verbracht, aber es hatte dort auch schöne Momente gegeben. Lolly hatte sie natürlich gebeten, Charlie mitzubringen, und Boothbay Harbor im August war für Kinder das reinste Paradies. Trotzdem – die Pension würde für June immer der Ort bleiben, an den sie gezwungen worden war, als sie ihre Eltern verlor – und, in gewisser Weise, auch noch ihre Schwester. Zog sie dann noch in Betracht, wie sie sich als verängstigte, schwangere Einundzwanzigjährige gefühlt hatte, angeglotzt von ehemaligen Klassenkameraden, fühlte sich Boothbay Harbor für June schwerlich nach einem «Zuhause» an.
Nein, June freute sich kein bisschen auf den kommenden Abend. Ihr Leben stand gerade kopf, sie musste einen Plan entwerfen, sie brauchte Zeit und Raum zum Nachdenken. Beides war im Three Captains’ Inn nicht zu haben. Und auch nicht in Boothbay Harbor, mochte der Ort auch noch so schön und friedlich sein. Wenigstens konnte sie bei der Gelegenheit Henry im Buchladen besuchen gehen. Er würde sich freuen, Charlie wiederzusehen.
Sie war dankbar für die schnelle Umarmung, die ihr Sohn ihr schenkte, ehe er zu seinem Freund in die Küche zurückrannte, das Stirnrunzeln mit kindlicher Leichtigkeit in ein strahlendes Lächeln umgekehrt.
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3. Kat Weller
K at drückte sechs verschnörkelte Buchstaben aus der mit weißer Buttercreme gefüllten Spritztülle – L für Lolly, I für Isabel, E für Edward, J für June, C für Charlie und K für Kat – auf den Rand des Schokoladenkuchens, den sie für das Familienessen gebacken hatte. Mit dem zähen Karamell, den süßen Kokosraspeln und der knusprigen Pekannussfüllung war es der absolute Lieblingskuchen ihres Neffen Charlie. Sie hatte den niedlichen Siebenjährigen schon viel zu lange nicht mehr gesehen. Genauso, wie sie June und Isabel ewig nicht gesehen hatte.
Schon ehe Kat das Backen zu ihrem Beruf gemacht hatte, hatte sie zu jedem Familienfest in der Pension einen Kuchen mit allen Initialen gebacken. Es war ihre Art … sich Mühe zu geben, wahrscheinlich. Kat warf einen Blick auf die Küchenuhr, nahm die mit Glasur verschmierte Schürze ab und warf sie in den Weidenkorb. Bis zur Ankunft ihrer Cousinen blieb nicht mal mehr eine Stunde.
Geht’s dir gut?
, hatte Oliver vor zwanzig Minuten per SMS gefragt.
Ich weiß, dass du dir wegen heute Abend Sorgen machst. Ruf an, wenn du magst. O.
Er hatte recht. Sie machte sich Sorgen. Ihre Mutter hatte ihre Nichten nach Hause zitiert. Als Isabel vor Jahren einmal zu Weihnachten nicht nach Hause gekommen war, weil niemand sie explizit eingeladen hatte, hatte Lolly lediglich «Herrgott noch mal!» gemurmelt und gesagt, ab sofort würde die Familie jedes Jahr Thanksgiving und Weihnachten zusammen verbringen, komme, was da wolle, Einladungen würde es grundsätzlich keine geben, das verstehe sich ja wohl von selbst. Und so kamen künftig jedes Jahr Isabel und Edward zu Thanksgiving und zu Weihnachten in seinem schwarzen Mercedes aus Connecticut angereist, und June und Charlie in Junes uraltem dunkelgrünem Subaru Outback aus Portland, während Kats Anreise sich auf die Bewältigung eines Stockwerks zu Fuß beschränkte, weil sie noch immer in der Pension wohnte. Wie schon ihr ganzes Leben lang.
Doch noch nie zuvor hatte ihre Mutter Kats Cousinen aus einem anderen Grund nach Hause berufen. Sie hatte es Kat erst heute Morgen gesagt, ganz beiläufig, während sie die Eier für das Frühstück der Gäste aufschlug. «Ach, Kat, könntest du uns wohl für heute Abend einen Familienkuchen backen? Die Mädels kommen zum Abendessen. Ich habe sie hergebeten, weil ich euch allen etwas zu sagen habe.»
Das hatte gesessen! Etwas zu sagen? Lolly Weller war nicht der Typ, der lange um den heißen Brei herumredete. Wenn sie etwas zu sagen
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