Der Sommer der Frauen
Schulveranstaltungen sah oder wenn sie hörte, wie andere Kinder vor Charlie von ihren Vätern sprachen, überkam June diese abgrundtiefe Traurigkeit, die sie früher, als Charlie noch ein Baby war, oft um den Schlaf gebracht hatte – was wenigstens den nächtlichen Stillzeiten zugutegekommen war. Zu solchen Gelegenheiten verlor sie sich dann in Phantasievorstellungen, malte sich aus, John hätte sie damals an jenem milden Novembertag auf der Bank im Central Park
nicht
versetzt, sie hätten gemeinsam entdeckt, dass sie schwanger war, und als Paar entschieden, das Kind zu bekommen. Sie hätten geheiratet und wie durch Zauberhand eine wunderschöne Wohnung in New York gefunden, sie hätte ihr Studium an der Columbia beendet und wäre als Redakteurin zum
New Yorker
gegangen, und er … hätte ein Jahr Pause von seinem Jahr Pause gemacht, denn das war, was er damals gerade machte, und zu dritt hätten sie glücklich und zufrieden gelebt bis an ihr Ende, als intakte Familie. In dieser Phantasievorstellung hatte Charlie einen Vater.
In Wirklichkeit hatte er keinen.
June holte noch mal tief Luft und ging zwischen den beiden Stühlen in die Hocke.
«Worum geht es denn bei eurem Projekt?», fragte sie, den Blick auf die geöffneten Mappen gerichtet.
«Es ist für die Abschlussfeier von der Ferienbetreuung. Alle Eltern werden eingeladen», erklärte Charlie. «Wir bauen einen Riesenbaum, so ungefähr zehn Leute hoch, und an den hängen wir unsere eigenen Stammbäume. Weißt du, was ein Stammbaum ist, Mom?» Er nahm einen grünen Karton aus seiner Mappe.
«Ja, Charlie», sagte sie. Auf das Blatt war der Umriss eines Baums mit vielen Ästen gezeichnet. Überall gab es Ovale für die Namen. Urgroßeltern. Großeltern. Eltern. Du. Geschwister.
Setze die Namen in die Felder und schreibe darunter je drei Adjektive (Eigenschaftswörter) zu deinen Verwandten.
O Charlie!
June brach es beinahe das Herz. Die eine Seite ließ sich mit Leichtigkeit füllen. Das war die Nash-Seite. Auch wenn unter den Namen von Charlies Großeltern und seinem Großonkel mütterlicherseits ein Kreuzchen für «verstorben» stehen würde. Doch von der anderen Seite des Baumes, derjenigen oberhalb des Vater-Schildchens, hatte June keinen blassen Schimmer. Natürlich wusste sie, wie Charlies Vater hieß – Gott sei Dank, zumindest das. Aber drei Adjektive? Groß, dunkelhaarig, grünäugig, mit mehr konnte sie nicht aufwarten. Denn alles andere, was ihn ihrer Meinung nach hätte beschreiben können – von zwei Begegnungen her, jedenfalls –, war im Nachhinein in Stücke gerissen worden. Übrig geblieben war von John Smith ein Gesicht, das sie niemals vergessen würde, ein Gesicht, das ihr in Charlie jeden Tag aufs Neue begegnete.
«Mom, können wir uns mal kurz nebenan unterhalten, bitte?», fragte Charlie. Die Anstrengung, vor seinem Freund nicht in Tränen auszubrechen, stand ihm ins Gesicht geschrieben.
«Klar. Wir sind gleich wieder da, Parker», sagte June. «Bitte greif zu.»
Sie gingen in Charlies Zimmer, das seit neuestem im Harry-Potter-Look dekoriert war. Charlie nahm seinen Zauberstab vom Tisch und fragte mit Tränen in den Augen: «Mom, warum habe ich keinen Papa, so wie alle anderen Kinder?»
Sie setzte sich auf sein Bett, hob ihn auf ihren Schoß und nahm ihn in die Arme. Darüber hatten sie schon viele Male geredet, und jedes Mal, wenn er es brauchte, wiederholte sie es für ihn. «Du
hast
einen Papa, Charlie, aber er ist nicht Teil unseres Lebens. Er wusste nicht, dass ich mit dir schwanger bin, und er ist weggezogen, ehe ich es ihm erzählen konnte. Und obwohl ich nach ihm gesucht habe, konnte ich ihn nicht finden.» Sie nahm Charlie fest in die Arme, die Wange an seine feinen, weichen Haare geschmiegt. «Wenn er von dir wüsste, Charlie, wenn er wüsste, dass es dich gibt, dann wäre er bei uns. Er würde dich lieb haben. Das weiß ich ganz sicher.»
«Aber wie soll ich jetzt den Stammbaum ausfüllen?», wollte Charlie wissen.
Junes Herz zog sich zusammen. Sie hatte gewusst, dass dieser Tag kommen würde, der Tag, an dem das, was sie ihm sagen konnte, nicht mehr genügte. Sie musste etwas unternehmen, endlich etwas herausfinden. Charlie hatte ein Recht darauf zu erfahren, wer sein Vater war – und zwar mehr als ein Name und ein paar notdürftige Daten. «Hör mal, mein Schneckchen. Ich versuche, für deinen Baum noch ein bisschen mehr über deinen Papa herauszufinden, okay? Auch über seine Eltern und seine
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