Der Sommer der Frauen
Oktober begann mit strahlendem Sonnenschein und perfekten neunzehn Grad. Es herrschte derartige Bilderbuchstimmung, dass sogar der Gang ins Krankenhaus zu Lollys Tests Kat die Laune nicht verderben konnte. Es war zwei Tage her, seit ihre Mutter ihr das One-Way-Ticket nach Paris geschenkt hatte, und auch wenn Kat noch keine Entscheidung getroffen hatte, war doch ihre Angst verschwunden. Sie hatte die letzten beiden Nächte sogar bis sieben Uhr morgens durchgeschlafen. Ein Grund dafür war die gelöste Stimmung ihrer Mutter. Lolly hatte endlich inneren Frieden gefunden, und Kat fühlte sich, das Flugticket wohlbehalten unter der Matratze versteckt, so sorglos und frei wie seit langem nicht mehr.
Während eine Krankenschwester Lollys Werte maß, ging Kat hinaus, um für sie beide in der Cafeteria eine Tasse Tee zu besorgen. Am Ende des Flurs trat Matteo gemeinsam mit einer Gruppe Ärzte aus einem Krankenzimmer, und als er sie sah, winkte er ihr zu. Bei seinem Anblick schlug ihr Magen wie üblich einen Purzelbaum.
«Ich wollte gerade für mich und Lolly einen Tee holen», sagte sie. «Hast du eine Minute Zeit, mich zu begleiten?»
Sie hatte ihn eine Weile nicht gesehen. Er rief häufig an, und sie hatten letzte Woche im Krankenhaus kurz zusammen zu Mittag gegessen, weil Kat ihm sagen wollte, dass sie den Muffin-Backunterricht für seinen Vater verschieben musste, bis es Lolly wieder besser ging, doch ansonsten hatte sie sich sowohl von Matteo als auch von Oliver ferngehalten. Oliver zeigte wenig Verständnis und schickte ihr kurze, wütende SMS wie
Von dir hört man ja gar nichts mehr!
, und Matteo hinterließ ihr Nachrichten auf der Mailbox, die von weißen Blutkörperchen handelten und von Mal zu Mal sachlicher und unpersönlicher wurden. Gut möglich, dass er ebenfalls auf dem Rückzug war.
Doch da hatte sie sich geirrt. «Ich habe viel an dich gedacht, Kat», sagte Matteo, während sie heißes Wasser aus dem großen Spender über den Teebeutel in ihrer Tasse laufen ließ. «Ich habe versucht, mich zurückzuhalten, weil ich weiß, dass du eine Entscheidung treffen musst – ob du heiraten sollst», sagte er schließlich. «Aber ich glaube, dass da zwischen uns etwas wirklich Echtes ist.»
War es nicht, wurde Kat plötzlich klar. Da war etwas in ihrem Inneren, etwas, an das er gerührt hatte, etwas, das ihr plötzlich glasklar sagte, dass sie weder jemanden heiraten noch mit jemand anderem nach New York abhauen sollte. Matteo hatte mit dem europäischen Timbre in seiner Stimme ihre tiefsten Sehnsüchte wachgerufen – zu tun, wovor sie immer Angst gehabt hatte. Boothbay Harbor zu verlassen. Sich quer durch Paris und Rom und Barcelona zu schmecken, bei einem Meisterkonditor in die Lehre zu gehen. Selbst zu definieren, wer sie war. Wen sie lieben wollte.
Sie sah zu, wie Matteos Lippen sich beim Sprechen bewegten, beobachtete den Mund, von dem sie oft die Augen nicht hatte abwenden können, getrieben vom Verlangen, diese Lippen zu küssen, und ihr wurde klar, dass Matteo war wie Clint Eastwood in
Die Brücken am Fluss
. Er wollte, dass sie wegging, ohne echtes Verständnis – oder Interesse – für das zu haben, was sie damit aufgab. Natürlich hatte sie im Gegensatz zu Meryl Streep in dem Film weder einen Ehemann noch Kinder, und sie wusste auch, dass ihrer Mutter auf dieser Erde nicht mehr viel Zeit blieb. Aber ein anderer Mann war auch nicht, was sie wirklich brauchte.
Es wurde Zeit, endlich die Flügel auszubreiten und davonzufliegen, und vielleicht war sie danach bereit, zurückzukehren und Oliver zu heiraten – falls der sie dann noch wollte. Oder nach New York zu gehen und Matteos italienische Lippen zu küssen.
Aber jetzt ging es erst mal nur um sie selbst.
*****
Kat saß auf Olivers Sofa und öffnete den Mund, um ihm zu sagen, dass sie einfach noch nicht bereit war, ihn zu heiraten, überhaupt zu heiraten, doch es kam kein Ton heraus. Denn völlig durch den Wind zu sein, nicht zu wissen, was sie wollte, sich wie ein dummes Schaf aufzuführen war das eine. Das andere jedoch war, Oliver weh zu tun, Oliver, der, solange sie denken konnte, ihr allerbester Freund gewesen war.
«Ich habe etwas für dich.» Er stand auf und ging zu dem Tisch am Fenster, holte ein Blatt Papier und reichte es ihr.
«Was ist das?»
«Lies es einfach.»
Sie überflog die Seite und rang nach Atem. Die Online-Bestätigung für einen sechswöchigen Patisserie-Kurs in einer berühmten Pariser Kochschule. Beginn der Ausbildung:
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