Der Sommer der Schmetterlinge
Foto mitgebracht, einem Schwarzweißfoto von einem Mann und einer Frau, die sich mitten auf der Straße küssen. Nie werde ich das in meinem Wohnzimmer aufhängen. Ihre Bilder, ja. Ihre Landschaften sind wirklich schön, und außerdem sind es Ölgemälde, so was ist wertvoll.
Tomás dachte an die meisterhafte Fotografie von Robert Doisneau. Lächelnd zündete er sich eine Zigarette an, und der Rauch stieg spiralförmig empor wie eine tanzende Schlange. Einen Moment lang bildete er eine weibliche Gestalt, die gleich wieder zerfloss. Vom vielen Schlafen müde, stand der Hund auf, kratzte sich mit der Hinterpfote am Ohr und vergaß sie für einen kostbaren Augenblick in der Luft, während er in die Ferne blickte und etwas sah, das dem Mann entging. Er wandte den Kopf, bemerkte hinter sich die geöffnete Tür, und plötzlich überkam ihn eine Ahnung, die ihm ein sanftes, fast unsichtbares Lächeln in sein Hundegesicht zauberte. Dann legte er sich zwei Meter weiter wieder hin, wo das Gras hoch und vielleicht kühler war.
Für Tomás gab es nichts Neues mehr. Es wurden nur wenige Worte gewechselt, was daran lag, dass er die meiste Zeit mit einer Köchin verbrachte, die nicht gern redete und sich durch ein Lächeln und einen Einsilber verständigte – oder durch deren Ausbleiben. Nur selten fuhr er nach Jabuticabais, in die nächstgelegene Stadt, um seine mehr als bescheidenen Einkäufe zu erledigen. Darüber hinaus gab es nur die Besuche seiner Freundin Clarice. Und die Besuche bei seiner Freundin Clarice. Die dazudienten, sich noch einmal zu vergewissern: Es gab nichts Neues. Sein Weg war zu Ende, Tomás durfte sich in den Schatten setzen, vor die Ziellinie, die mit dem Ausgangspunkt zusammenfiel, so als hätte er sich überhaupt nicht bewegt oder als hätte sein Leben einen Bogen von 360 Grad beschrieben. Hier konnte er nun die Erdumdrehung beobachten und die magere Abfolge der Jahreszeiten. Das Zusammensein mit Clarice fügte sich in diese Wirklichkeit ein, ohne Forderungen, ohne Erschütterungen, ohne Aufsehen. Es erzeugte keinen Missklang, der nach einer Reaktion verlangt hätte, war still wie alles Übrige. Wenn der aufsteigende Rauch eine weibliche Gestalt formte, dann gewiss nicht die von Clarice. Aber, das musste Tomás sich eingestehen, trotz allem vielleicht noch immer jene andere. Jene, die er am nächsten Tag wiedersehen würde.
Eine Frau, die seine Erinnerung stets in jugendliches Weiß kleidete.
Viele Jahre zuvor war jene Frau in Weiß einfach noch Maria Inês. Und hatte soeben das Samenkorn für einen Geldbaum in den Boden gelegt, zusammen mit einem Cousin zweiten Grades, der einfach noch João Miguel war. Cousin und Cousine zweiten Grades mit Doppelnamen: Das war alles, was sie gemeinsam hatten.
Er keimt noch gar nicht, beschwerte sich João Miguel, worauf Maria Inês mit den Schultern zuckte und sagte: Du hast bloß keine Geduld. Denkst du, das geht so schnell? Wir säen einen Samen, und der keimt auf der Stelle? Da muss man lange warten.
Wie lange?
Kommt drauf an. Tage, Wochen.
So lange?
Sie antwortete nicht. Mit beinah mütterlicher Sorgfalt glättete sie die Erde. Dann blickte sie auf und verfolgte mit den Augen einen Schmetterling, der die kurze Strecke bis zum Steinbruch zurücklegte und sich kühn in den Abgrund stürzte.
Hör mal, du darfst meinem Vater nicht erzählen, dass wir hier gewesen sind. Das ist nämlich verboten, sagte sie.
Verboten?
Ja. Er hat es verboten. Es ist zu gefährlich.
João Miguel erschrak. Aber gleichzeitig erschien es ihm logisch, dass ein Geldbaum wie der, den er und seine Cousine zweiten Grades gerade gesät hatten, an einem geheimen Ort stehen musste. Wo man schwer hinkam. An einem verbotenen Ort.
Eine Stunde lang waren die beiden Kinder den Berg hinaufgestiegen, hatten die Weide hinter sich gelassen und das Wäldchen (es sah aus wie ein Rest Haare auf einem ansonsten kahlen Schädel), hatten sich unzählige Zecken eingefangen, bis sie endlich an den Rand des großen Steinbruchs gelangt waren, wo Scharen von Eidechsen reglos in der Sonne lagen.
Von dem höchsten Felsen aus konnten sie die ganze Welt betrachten oder zumindest das, was Maria Inês aus der Perspektive ihrer neun Jahre für die ganze Welt hielt. Auf der einen Seite der Fluss wie ein golden schimmernderBindfaden, auf der Weide die Tiere wie Miniaturen, in der Ferne das Haus und der Stall wie kleines buntes Plastikspielzeug. Auf der anderen Seite die Stille und die Leere, verstärkt durch den
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