Der Sommer der Schmetterlinge
Janeiro hing.
Maria Inês’ dunkle Mandelaugen begegneten und vervielfachten sich im Spiegel. Sie näherte sich ihrem Abbild und entfernte mit einer Pinzette die überzähligen Härchen der ursprünglich dichten, jetzt fein geformten Brauen. Sie dachte an João Miguel und seine verstauchte Hand, dann versuchte sie, beide zu vergessen. Es war nicht gut, die vor langer Zeit gefällten Entscheidungen immer wieder in Zweifel zu ziehen. João Miguel wirkte zufrieden, Maria Inês wirkte zufrieden. Die Jahre lagerten sich ab und glätteten Unebenheiten. Maria Inês empfand keinen Schmerz mehr, wenn die Pinzette zielsicher ein Haar ergriff und es mit der Wurzel herausriss. Ihre Haut hatte sich daran gewöhnt.
Sie tauchte ihre kleinen Füße in die Badewanne, zuerst den rechten und danach den linken, eine umgekehrte Geburt – es fehlte bloß die Zange, mit der man sie aus dem Leib ihrer Mutter geholt hatte. Sie ließ das Wasser steigen, bis es ihren Hals erreichte. Es war kalt, angenehm neutralisierend, denn in diesem Bad, in dieser Stadt, in dieser Jahreszeit schwitzte man viel. Maria Inês lehnte ihren Kopf gegen die Stirnwand der Wanne, schloss die Augen, atmete tief durch, und für einen Moment glaubte sie, dass es vielleicht möglich war.
Mittlerweile hatte Clarice keine Verletzungen mehr, nur noch Narben. Verwachsene Geheimnisse. Gleichgültig beobachtete sie den Pick-up, den Ilton Xavier ( ihr Ilton Xavier) erst vor wenigen Wochen gekauft hatte und mit dem er nun die unbefestigte Straße entlangfuhr, eineStaubwolke hinter sich zurücklassend wie einen Gedanken – einen Zweifel, den Rest einer vergessenen Frage aus der Vergangenheit. Clarice kannte die Hölle, aber am Ende war es ihr gelungen, die Zeit zu bezwingen und die Angst loszuwerden. Natürlich hatte Ilton Xavier schon lange aufgehört, ihrer zu sein, doch einige Gewohnheiten überdauerten. Wie dieses Possessivpronomen, das sie unbewusst gebrauchte: mein Ilton Xavier. Letztlich stellte das keinen schwerwiegenden Fehler dar.
Sie lehnte sich aus dem Wohnzimmerfenster und betrachtete das Leben, das den reglosen Nachmittag durchzog. Erst jetzt, mit achtundvierzig Jahren (vier mehr als ihre Schwester Maria Inês), war sie zu dieser Erkenntnis gelangt: Die Zeit steht still, aber die Lebewesen leben weiter . Im Stil einer Beichte hatte sie das in einem Notizbuch festgehalten, ohne sich allzu sehr daran zu stören, dass das Schreiben in Notizbücher eine Eigenheit ihrer Schwester war oder zumindest gewesen war. Es spielte keine Rolle. Nach so vielen Jahren und der ganzen Geschichte, die mehr zählte als Jahre und Jahrzehnte und Jahrhunderte, hatten die Dinge an Bedeutung verloren. Sie verdienten keine starken Possessivpronomen mehr, wie im Fall von Ilton Xavier. Selbst die Beichten, die man in irgendwelchen Notizbüchern festhielt, erwiesen sich, bei Licht besehen, als töricht.
Achtundvierzig. Mit Narben an den Handgelenken. Clarice ließ ihren Blick über die Felder schweifen (es waren nicht viele), die ihrem Vater, Afonso Olímpio, gehört hatten und die sie bis auf das Terrain, auf dem sie lebte,ohne schlechtes Gewissen verkauft hatte. Sie sah das ehemalige Landarbeiterhaus, in dem jetzt Tomás, der einstige Geliebte ihrer Schwester, wohnte und bescheidene Bilder malte – Landschaften, denen jeder Schwung fehlte. Leblose Stillleben. Abstraktionen ohne Sinn und ohne den Wunsch, einen Sinn hervorzubringen. Nichtssagende Porträts. Tomás schien das Mittelmaß mit derselben Hartnäckigkeit zu verfolgen, mit der er Jahrzehnte zuvor einer vermeintlich höheren, die gesamte Menschheit betreffenden Begabung nachgejagt war. Er hatte alles ins Gegenteil verkehrt, nur um den Verlust einer Frau zu überleben. Und all dessen, was sie aus ihm herausgerissen und mit sich genommen hatte.
Diese Frau war Maria Inês gewesen, natürlich.
Hinter Tomás’ Haus sah Clarice von Misteln überwucherte Zäune und nicht weit davon entfernt andere, ordentliche, aus frisch geweißtem Holz. Im Schatten eines großen Mangobaums sah sie Rinder auf der Weide stehen, die gemächlich wiederkäuten und mit dem Schwanz Insekten verscheuchten. Schließlich wandte sie sich um und sah das Foto von Otacília, ihrer Mutter, die ihr nicht ihre aquamarinblauen Augen vererbt hatte.
Eines Tages das Vergessen. Eines Tages die Zukunft.
Eines Tages der Tod. Abermals befühlte Clarice mit den Kuppen ihrer Daumen die beiden identischen Narben, eine an jedem Handgelenk. Und lächelte ein
Weitere Kostenlose Bücher