Der Sommer der Schmetterlinge
verurteilt? Wie viele unerwartete Dinge erhoben sich schattengleich hinter jedem neuen Schritt?
Im fernen Alter von zwanzig Jahren war alles so anders gewesen. Und dennoch hatte jene Zeit bereits sämtliche späteren Ereignisse in sich getragen. Eines Tages stürmte die Polizei die kleine Wohnung im Stadtteil Flamengo, die seine Eltern erst zwei Monate zuvor gekauft hatten. Auf der Suche nach subversiven Büchern. Es gab sie nicht mehr, sie waren, wie damals üblich, zerrissen und durchs Klo gespült worden. Tomás musste zusehen, wie das Flugzeug abhob und seine Eltern ins Exil entführte. Eines Morgens wachte er auf und stellte fest, dass er zwanzigJahre alt war und ganz allein. In jeder Hinsicht allein. An einem fernen Morgen. Er war zwanzig Jahre alt und hatte mindestens zwanzig Möglichkeiten zur Auswahl. Deshalb musste Tomás lächeln, als er das junge Mädchen im Erker einer Wohnung des Nachbargebäudes entdeckte. Weiß gekleidet und mit offenem Haar, wie eine Erscheinung. Langes, dunkles Haar, schwer und gelockt. Es konnte gar nicht anders sein: Das Mädchen in Weiß . Die Symphonie in Weiß von Whistler. Die Poesie des Blicks.
Überall in dem Apartment in Flamengo, das Tomás nun allein bewohnte, lagen Skizzenbücher herum, die seinen Ehrgeiz bezeugten. Seine Leinwände wurden immer größer. Der Geruch von Öl- und Acrylfarben erfüllte die Räume. Auf dem Tisch, an dem vier Leute Platz gefunden hätten, lagen Bleistifte, Schwämmchen, Zeichenkohle und Pastellkreide durcheinander, standen Gläschen mit Gouachefarben, mit Chinatinte und Pinseln. Früher hatte die Familie sich an diesem Tisch zu den täglichen Mahlzeiten versammelt, aber auch Geheimtreffen der Partei, bei denen man hochtrabend und hitzig diskutierte, wurden hier abgehalten. Tomás’ Vater war Journalist, seine Mutter hatte Jura studiert und war Vorsitzende des akademischen Direktoriums der Katholischen Universität von Rio de Janeiro. Ihre Decknamen stammten aus dem Alten Testament. Sie hieß Esther, er Salomo.
In Tomás’ Träumen wimmelte es von Museen, die er noch nicht besucht hatte, von vornehmen Kunstgalerien, Biennalen, Ausstellungen, Panoramen, Retrospektiven, die er mit seiner gesunden Neugier gern erforscht hätte.Doch sein Talent stand sich selbst im Weg, es entwickelte sich ohne System und Ausdauer, war unentschieden, mal wenig, mal übermäßig produktiv. Als müssten die Möglichkeiten alle im selben Moment verwirklicht werden, als wäre jeder Augenblick der letzte. Zugleich schien es nichts Dringenderes zu geben als den Schlaf am Sonntagmorgen oder die Trägheit, wenn die Sonne heiß auf die Haut brannte. Ohne Begrenzung, Ordnung oder einen festen Rückhalt verzettelte sich Tomás’ Talent, und nicht selten verirrte es sich, flatterte herum wie ein orientierungsloses Insekt. Die Phasen der Selbstdisziplin beschränkten sich auf die wenigen Privatstunden, die er gab, um sich keine Anstellung suchen zu müssen (die er vielleicht gar nicht gefunden hätte, weil er wegen seiner Eltern als Persona non grata galt).
Beinah zufällig entdeckte er das Mädchen in der Wohnung gegenüber. Kaum hatte er sie gesehen, dachte er sofort an ein Werk von Whistler, einem Maler, der in seinen Bildtiteln häufig Farbe und Musik kombinierte. Notturno in Schwarz und Gold , Notturno in Blau und Grün , Harmonie in Violett und Gelb . Symphonie in Weiß . Und so, angesichts des Mädchens, kam Tomás bald auf die Idee, ein Gemälde nach Whistler zu schaffen, in Anlehnung an dessen Symphonie in Weiß . Dabei übersah er, dass er mit zwanzig Jahren Kunst und Liebe, Liebe und Leidenschaft noch nicht voneinander trennen konnte. Er war verdammt, sich hoffnungslos in das Mädchen in Weiß zu verlieben.
Die folgenden Jahrzehnte hatten ihm alle seine traurigenIrrtümer vor Augen geführt. Jetzt besaß er kein Buch mehr, in dem sich eine Abbildung des Whistler-Gemäldes fand. Er konnte es nicht mehr betrachten und das klägliche Gefühl seiner Ohnmacht wiederbeleben. Worte, die er nicht gesagt, Positionen, die er nicht bezogen hatte. Doch all das, genau wie Whistler und die Träume von einer herrlichen Zukunft, ruhte, so schien es, im Vergessen.
Nun aber erinnerte sich Tomás, selbst wenn sein Gedächtnis zerschlissen war und man durch es hindurchsehen konnte wie durch ein abgenutztes Stück Stoff. Und es blieb ihm auch nichts anderes übrig, als sich zu erinnern. Diese Nacht würde wie die gespannte Stille vor dem Regen sein. Die längste Nacht von
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