Der Sommer der Schmetterlinge
Atmosphäre Regen verhieß. In dem großen Steinbruch auf dem nahe gelegenen Berg öffnete ein später Schmetterling seine schillernden Flügel und stürzte sich in den Abgrund.
Der Tod in Venedig war ein verbotenes Buch gewesen. Bei ihr – Otacília. So lange hatte Clarice warten müssen, bis sie endlich Gustav von Aschenbach begleiten durfte, wie er seine Wohnung in der Prinzregentenstraße in München Anfang Mai eines nicht genauer bezeichneten Jahresverließ (19…, hieß es im ersten Satz). So lange: das ganze Leben. Das ganze Leben in dem Versuch, Otacília zufriedenzustellen und sich dadurch ihre Mutterliebe zu verdienen. Eine Hoffnung, die sich nie erfüllt hatte.
Als Kind strengte sie sich an, ihr zu gehorchen und ihr respektvoll zu begegnen. Sie hätte sich gewünscht, Gedanken und Gefühle lesen zu können, um Otacília, ihren Wünschen und Erwartungen, zuvorzukommen. Doch nichts schien Otacília Freude zu bereiten, nichts schien sie aus ihrer Erstarrung zu reißen, weder Clarices eifrige Angepasstheit noch Maria Inês’ wilde Aufsässigkeit oder Afonso Olímpios äußerlich korrektes Verhalten, die schönen, klaren S-Laute seines Minas-Gerais-Dialekts oder der Geruch der Pfeife, die er am Abend schweigend rauchte. Wenige Jahre hatten ausgereicht, um Otacília zu verdüstern, um ihre aquamarinblauen Augen zu trüben und mit Groll zu erfüllen, um sie einem kalten Morgen nach schlafloser Nacht ähnlich werden zu lassen. Ihre Laune verfinsterte sich mit jedem Tag mehr, und Clarice fand keine Möglichkeit, sich nicht wenigstens ein bisschen schuldig zu fühlen. Sie war sich sicher, dass ihre Mutter sie nicht liebte. Vielleicht, weil sie etwas getan hatte? Etwas sehr Hässliches und Verdammenswertes, an das sie sich nicht einmal erinnerte? In den ersten Jahren oder sogar in den ersten Monaten ihres Lebens?
Diese Mutmaßungen kamen schon sehr früh auf. Zu einer Zeit, in der das Offensichtliche noch nicht offensichtlich war und verborgen hinter der Tür wartete wie ein Raubtier. Vorher, lange davor.
Clarice klappte das Buch zu und verzichtete darauf, die Seite zu kennzeichnen, denn sie würde das Ganze ohnehin von vorn beginnen müssen: mit Gustav von Aschenbach in der Prinzregentenstraße (im Jahr 19…). Sie hob den Blick zu der Fotografie von Otacília in ihrem Brautkleid und sah eine kleine weiche Raupe selbstvergessen über das Bild kriechen.
In den wenigen Büchern, die Tomás noch besaß, fand sich keine Abbildung des Gemäldes von Whistler. Das Mädchen in Weiß oder Symphonie in Weiß Nr. 1 . Die Poesie des Blicks. Bei all den Wechselfällen des Lebens verwunderte es nicht, dass hier und da materielle Güter verlorengingen wie abgestorbene Hautschuppen. Das Wenige, das übriggeblieben war, hatte Tomás verkauft, um dieses bescheidene Stück Land zu erwerben, wo eine jämmerliche Hütte sich für ihre Existenz entschuldigte, die Feldhühner ihr eintöniges Gegacker von sich gaben und die Köchin Jorgina einen zu schwachen und zu süßen Kaffee kochte, wo ein namen- und herrenloser Hund seine rätselhaften Träume träumte, sein Futter verschlang, als wäre er halb verhungert, und sich dann mit aufgeblähtem Leib hinlegte. Die Bücher waren fast alle verschwunden, zusammen mit dem Großteil seiner Ambitionen. Tomás genügte es, wenn sein Leben ruhig dahinströmte wie ein Fluss in der Ebene.
Er wartete. Wie Clarice, seine Nachbarin, deren Haus er durch die fünfzigjährigen Pinien und Eukalyptusbäume im Dämmerlicht erkennen konnte. Die hereinbrechende Nacht drohte die längste von allen zu werden.
Inzwischen hatte der Hund seinen Tag offenbar beendet und war benommen ins Haus gewankt, um auf dem Wohnzimmerteppich weiterzuschlafen. Am Himmel leuchteten unzählige Sterne. Hier auf der Fazenda, in einer Nacht, die sich grundsätzlich von den Nächten in der Stadt unterschied, wo alle Himmelskörper verblassten und von anderen Lichtern überschattet wurden, konnte man die Sterne in der Milchstraße baden sehen. Vielleicht kam am Ende doch kein Regen, auch wenn der Nachmittag sich mit dieser Verheißung verabschiedet hatte. Aus der Küche drangen das Geräusch und der Geruch von Frischgebratenem zu Tomás, während vor ihm am Boden ein halbtoter Schmetterling den vergeblichen Kampf gegen ein Heer hungriger schwarzer Ameisen aufgab, die seine sterbenden Reste fortschleppten.
Warum gingen die Menschen verschiedene Wege? Wie viele der aus feinsten Fäden gewebten Träume waren zum Scheitern
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