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Der Sommer der Schmetterlinge

Der Sommer der Schmetterlinge

Titel: Der Sommer der Schmetterlinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adriana Lisboa
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Anblick, der unter anderen Umständen hätte schön sein können. Unzählige Male hatte sie geträumt, dass sie an jenem Nachmittag nicht Clarice in seinen Armen gesehen hätte, sondern Otacília. Eine glückliche Otacília. Oder irgendeinen anderen Mann mit ihrer Schwester. Einen anderen Mann, nicht ihren eigenen Vater.
    Warum gehst du dich nicht besaufen und lässt uns in Frieden?
    Afonso Olímpio wollte all das sagen, was zu sagen er nie bereit gewesen war, doch seine Anstrengungen waren umsonst. Er machte einen Schritt, zwei Schritte. Neben Clarice öffnete der bunte Schmetterling die Flügel und stürzte sich in den Abgrund. Er konnte fliegen.
    Das Gesicht des Vaters war leer. Frei vom Sinn dieses Namens: Vater. In seinem Herzen standen Ruinen. Er war nur noch ein Überbleibsel ihrer Geschichte.
    Früher, als die Macht ihm gehörte, hatte er die Geschichte so gestaltet, dass aus zwei Töchtern zwei Feindinnen geworden waren. Nun fühlte sich Afonso Olímpio randvoll mit Leere und hatte den Eindruck, an sich selbst zu ersticken.
    Diese Begegnung war jedoch kein klassischer Fall, es ging nicht um Schuldbekenntnis, Reue und Sühne. Nichts trug einen Namen, nichts wurde deutlich. Dennin Wahrheit hatte sich nichts geändert, und es würde sich auch nichts ändern. Die Dinge wechselten nur ihre Farbe wie die Blätter eines Baumes mit der Abfolge der Jahreszeiten.
    Afonso Olímpio begann, den Steinbruch hinaufzuklettern. Es fiel ihm schwer, ungeheuer schwer, weil er zusätzlich zum Alter, das seine Knochen schwächte und ihm den Atem abschnürte, auch an diesem Morgen und zuvor eine ganze schlaflose Nacht lang getrunken hatte. Er war mager und hatte tiefe violette Furchen unter den Augen. Ein mitleiderregender netter Herr, der sein Leben beinah korrekt gelebt hatte – bis auf diese kleine Ausnahme natürlich, den Stein mitten auf dem Weg.
    Clarice erhob sich. Die fügsame, zurückhaltende, demütige, wohlerzogene Clarice. Sie folgte einem Impuls, einem bedingten Reflex. Maria Inês wusste, dass sie versuchen würde, ihm zu helfen. Dass sie wieder gehorchen wollte.
    Lass ihn, sagte Maria Inês.
    Aber Maria Inês, er …
    Lass.
    In Afonso Olímpio arbeitete etwas Verborgenes. Sein Körper sonderte kalten, klebrigen Schweiß ab. Angst. Maria Inês hielt ihre Schwester an der Hand fest, Clarice zitterte. Er kletterte weiter, stützte sich mit den Händen an den größeren Steinen ab, keuchte. Was zum Teufel will er? , dachte Maria Inês und fand keine Antwort. Was zum Teufel wollte er?
    Und dann, nach Minuten, die Stunden dauerten, erreichteer den Gipfel, blickte seine beiden Töchter an und streckte die Hand aus.
    Nein. Maria Inês fasste Clarice um die Taille und zog sie sanft zurück. Afonso Olímpio ließ den ausgestreckten Arm in der Luft stehen. Da trat Maria Inês auf ihn zu und sagte: Ich hätte sie gleich am Anfang wegbringen sollen, aber ich war noch zu klein. Jetzt wirst du sehen, dass ich groß bin und auch ziemlich stark, Vater.
    Sie wunderte sich, als sie sich dieses Wort sagen hörte, Vater, das letzte Wort, das sie zu ihm sagte, und das letzte, das er vernahm. Dann gab sie ihm einen ganz leichten Stoß.
    Ein unhörbares Geräusch erklang in Clarices Seele. Sie drehte das Gesicht zum Himmel und erblickte den bunten Schmetterling, der sich in die Höhe schwang.
    Der Schmetterling über dem Steinbruch, über dem Abgrund.
    Und ein erstickter Schrei.
    Und Maria Inês’ rechte Hand, die kraftvoll die linke ihrer Schwester festhielt und sie zwang, auf den Beinen zu bleiben.
    Zu überleben.
    Dann zog Maria Inês sie sanft fort von der Erinnerung an ihn. Stützte sie und beschützte sie. Nie wieder sollte Maria Inês’ Blick in Brand geraten.
    Die Stille summte in Clarices Ohren, aber sie blickte nicht zurück. Sie fühlte keinen Schmerz, als ihr Vater vom Gipfel des Steinbruchs fiel und sein Körper dort unten zerschmetterte, Vögel, Insekten, Gespenster aufstörend.Auf der anderen Seite. Wo nichts war. Wo im verlassenen Herrenhaus der Ipê-Fazenda runde Schnecken langsam Streifen über die schlafenden Mauern zogen und Sukkulenten auf dem Dach wuchsen. Sie folgte der Schwester, willenlos, geistesabwesend, als wäre sie ihr eigener Schatten. Als wäre sie, wenigstens für diesen Moment, ein kleiner Schmetterling, der sich über der Welt, über dem Leben, über dem Tod in die Höhe schwingen konnte.
    Alles war so schnell gegangen: Maria Inês’ Hand auf seiner Brust und der Stoß. Und sein Blick, der besagen

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