Der Sommer der Schmetterlinge
vielleicht weil er der Geschichte endlich eine andere Richtung geben musste, auch wenn er selbst es gewesen war, der vor Jahren das Steuer in der Hand gehabt hatte. Denn nachts drang das Schweigen dieses lebendig-toten Hauses in seine Gehörgänge, in seine Poren, in seine Gedanken. Mit tausend scharfen Krallen, mit Millionen spitzen Zähnen. Ein Schweigen, das ein Fehlen bedeutete, wie ein amputierter Körperteil. All die Fragen ohne Antwort und die Antworten auf nicht gestellte Fragen. Die Welt, die er sich errichtet hatte und die nur noch Einsamkeit produzierte.
Einen derart hohen Berg hinaufzusteigen, war keine einfache Aufgabe für einen Mann seines Alters. Doch er rief alle seine Gefühle herbei, versammelte sie in seiner Brust und ging die Sache an, vielleicht in der Absicht, eine unwahrscheinliche Verzeihung zu erbitten. Jetzt, da er Angst hatte.
Er war alt. Seit seiner letzten Begegnung mit Maria Inês im Jahr zuvor schien er jedenfalls deutlich gealtert zu sein. Wie eine verdeckte Drohung tauchte er zwischen den Bäumen auf, aber er bedrohte niemanden mehr. Dazu fehlte ihm die Kraft. Ein verdorrter Zweig, ein verdorrter Mann. Nur mit wirren Worten ausgerüstet, deren Sinn ihm möglicherweise unbekannt war.
Seine Töchter sahen ihn kommen und rührten sich nicht. Doch sie ließen ihn nicht aus den Augen.
Einige Meter von ihnen entfernt, am Fuß des Steinbruchs,blieb er stehen. Stumm, weil die Wörter ihm nicht gehorchten, als er sie in seinem Gedächtnis aufzufinden suchte. Er hatte ein gutes Leben gehabt, aber diese verkehrte Beziehung ließ ihm keine Ruhe. Manchmal fühlte Afonso Olímpio sich schuldig, manchmal schob er die Schuld auf andere: auf Clarice. Auf Otacília, die geschwiegen hatte. Auf Maria Inês, die Zeugin gewesen war.
Maria Inês spürte, dass ihre Nackenhaare sich aufrichteten wie bei einer Katze, und fragte mit lauter Stimme, damit er sie von ihrem Standort aus verstehen konnte: Was ist los? Was willst du hier?
Sprich nicht so mit ihm, rügte Clarice sie.
Ihre Deformationen entsprangen seinen Deformationen. Natürlich.
Dort vor Maria Inês und Clarice, wie ein Gespenst inmitten dieser Steine stehend, die spärlichen Haare im Wind flatternd, sah Afonso Olímpio die Dinge, die er hätte tun können, aber nicht getan hatte. Und auch den dunklen Schatten der Dinge, die er nicht hätte tun sollen, aber trotzdem getan hatte. Er war ein Mann, dem der bessere Teil seiner selbst abhandengekommen war, das, was ihn jetzt hätte aufrecht halten können.
Glaubst du an die Hölle, Vater?, fragte Maria Inês.
Später machte Clarice, was sie immer machte, und weinte nicht. Übergab sich nicht. Wurde nicht krank. Wurde nicht verrückt. Die ganze Nacht der Totenwache für ihren Vater schlief sie nicht und ließ Gedanken an sich vorüberziehen, die abstrakten Gemälden glichen. Die Anwesendendeuteten ihre leblosen Augen als Ausdruck der Trauer – doch das war falsch.
Verbrechen und Strafe, dachte sie. Aber es bedeutete nichts. Weil die Leben und die Gefühle, die diese Leben leiten, keine Mathematik sind.
Was erwartete sie selbst? Und Maria Inês? Wie hieß in der Sprache der menschlichen Vernunft diese Hölle, die über die Welt herrschte? Über die Körper der von ihren eigenen Vätern vergewaltigten Mädchen. Über die gefolterten Körper der politischen Gefangenen. Über die zierlichen, von Würmern, Fliegenlarven und Sandflöhen bevölkerten Körper der Kinder, die tagtäglich den Boden bearbeiteten.
Die Religion schien alles so haben zu wollen: als Mathematik. Vielleicht funktionierte das in den himmlischen Sphären ja tatsächlich. Man musste sehen, um zu glauben – oder eher glauben, um zu sehen.
Und deshalb hielt Clarice es aus. Weinte nicht, übergab sich nicht. Wurde nicht krank. Wurde nicht verrückt. Hielt aus und hielt immer weiter aus. Bis sie eines Tages dann doch auseinanderbrach.
Maria Inês’ entschiedener Tonfall auf dem Gipfel des Steinbruchs war scharf wie ein Messer. Afonso Olímpio schwieg. Sie wiederholte ihre Frage: Glaubst du an die Hölle? Du kannst ruhig antworten. Hier oben hören nur wir beide deine Beichte. Bist du deswegen hergekommen? Um zu beichten?
Sie hatte begonnen. Ihre schwarze Messe, die sie nichtgeplant hatte, auf die sie aber schon so lange wartete. Ein flammender, teuflischer Blick. Maria Inês lockerte ihre Stimmbänder, die angespannt waren, seit sie neun Jahre alt gewesen war. Seit ihre Kindheit ihr gewaltsam entrissen worden war, durch einen
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