Der Sommer der Schmetterlinge
dorthin wollte sie nicht. Sie hatte eine vage Idee, wo sie Clarice finden konnte.
An einem außergewöhnlichen Ort. An einem verbotenen Steinbruch. Über dem bunte Schmetterlinge tanzten.
Sie umrundete Afonso Olímpios Haus und gab acht, dass sie nicht gesehen wurde. Dann stieg sie angestrengt den Hügel hinauf, überquerte die Weide, auf der nachdenkliche Kühe wiederkäuten. Sie würde jede Menge Zecken auflesen. Nicht zum ersten Mal. Das war der Preis, wenn man ein Verbot missachtete. Danach ging sie durch das Wäldchen, in dem sich ein schmaler Pfad abzeichnete. Sie hatte diesen Weg unzählige Male beschritten. Sie sah die vertrauten Bäume und auch den unvergesslichen Stamm voller Dornen, an dem sie sich einst leichtsinnig festgehalten hatte. Jetzt kannte sie die Hindernisse und ahnte die Gefahren voraus. Viele Wurzeln kreuzten den Pfad, aber Maria Inês stolperte nicht mehr über sie.
Als sie den Steinbruch erreichte, schwitzte sie. Sie zog den Pullover aus und band ihn sich mit einem Knoten um die Taille, kniff die Augen zusammen, weil das diffuse Licht des Vormittags sie blendete. Vor dem Hintergrund des Himmels wirkte Clarices reglose Gestalt wie ein Tier. Fast glaubte Maria Inês, dass sie sie mit einer plötzlichen Bewegung aufschrecken und verjagen könne. Eine Clarice, die zart und wild zugleich war. Zerbrechlich. Großartig wie ein Wolf. Von Fallen umgeben.
Clarice sah ihre Schwester kommen, flüchtete aber nicht. Sie wirkte nicht einmal überrascht.
Diese Nacht habe ich schlecht geschlafen, sagte sie. Ich bin früh aufgewacht. Du warst noch in deinem Zimmer,ich habe eine Weile auf dich gewartet, dann bin ich hierher gegangen. Ich wusste, dass du mich finden würdest.
Clarices Stimme hallte zwischen den Steinen wider und kam dünn bei ihrer Schwester an.
Maria Inês sagte: Vor vielen Jahren habe ich mit João Miguel hier ein paar Münzen vergraben. Um zu sehen, ob daraus ein Geldbaum wächst. Sie tippte mit dem Fuß auf einen schmalen Streifen Erde zwischen zwei flachen Steinen.
Und, ist er gewachsen?, fragte Clarice warmherzig.
Bis jetzt nicht. Wahrscheinlich haben die Samen nichts getaugt, antwortete Maria Inês und lächelte.
Sie kletterte mit der Souveränität eines Menschen, der das Gelände gut kennt, über die Steine zu Clarice hinüber. Neben Clarice saß ein bunter Schmetterling, der mit langsamen Bewegungen seine Flügel öffnete und schloss, als wollte er sich strecken. Zu ihren Füßen lag in der Ferne die Ipê-Fazenda. Da wird eine Weide umgepflügt, meinte Clarice, anscheinend ist ein Teil des Landes verpachtet worden.
Dann sahen sie einander an, und Clarice stellte die Frage, die sie dreizehn Jahre lang vor sich hergeschoben hatte. Fast beiläufig fragte sie: Du hast es gesehen, nicht wahr? An dem Tag, an dem die Zypressenzapfen, die du immer gesammelt hast, im Flur verstreut lagen.
Maria Inês nickte.
Ich glaube, Mutter hat es gewusst, sagte Clarice.
Aber sie hat nichts dagegen unternommen.
Sie hat mich nach Rio geschickt.
Zu spät.
Vielleicht konnte sie es nicht eher.
Maria Inês seufzte und ließ ihren Blick schweifen. Hier oben wehte ein leichter Wind, der Schweiß auf ihrem Gesicht begann zu trocknen.
Und jetzt?, fragte sie.
Jetzt ist er die ganze Zeit betrunken, aber er lässt mich in Ruhe. Schon lange. Wahrscheinlich weil ich mittlerweile erwachsen bin.
Aber was er getan hat.
Was er getan hat, begleitet mich ständig. Wie ein Schatten. Eine Krankheit. Ilton Xavier und ich kommen zurecht, unser Zusammenleben ist gut. Nur manchmal bin ich mir nicht sicher, ich habe das Gefühl, dass ich es nicht mehr aushalte. Aber ich habe es die ganzen Jahre ausgehalten.
Das Zusammenleben mit Ilton Xavier?
Nein. Nicht das, nicht Ilton Xavier. Ich meine ihn. Unseren Vater. Die Erinnerung an ihn ist wie Säure, sie zerfrisst mich.
Maria Inês konnte es sich vorstellen. Höchstens vorstellen. Was nicht viel war, aber immerhin: Es gab noch ein Spektrum an gemeinsamen Gefühlen. Aber auch Schmerzen, von denen einige nur in ihr, Maria Inês, fortlebten. Wie der flammende Blick, der in schroffem Gegensatz zu Clarices scheinbarer Gelassenheit stand.
Unterdessen lenkte auch Afonso Olímpio an diesem Vormittag seine schwankenden Schritte zum Steinbruch. Keuchend überquerte er die Weide, ging durch das Wäldchen und stieg den Berg hinauf.
Er hatte Maria Inês kommen und den Weg zur Weide einschlagen sehen. Er ahnte, wohin sie wollte. Und zum ersten Mal beschloss er, ihr zu folgen,
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