Der Sommer der Schmetterlinge
streicht mit der Nase über ihr linkes Ohrläppchen, an dem nicht einmal der kleinste Schmuck glänzt.
Nichts ist einfach. Überhaupt nicht. Doch wenn es stimmt, dass die Zeit stillsteht (und nur die Lebewesen weiterleben), dann keimt alles, was zählt, im gegenwärtigen Moment. Nicht um zu blühen oder um Früchte zu tragen, sondern einzig und allein um zu keimen. Um jetzt zu sagen – was am Ende nur eine andere Form ist, immer zu sagen.
DIE SEELE DER WELT
Es ist Winter in Europa. In Italien. João Miguel hat einen Zwischenstopp zum Skifahren in Cortina d’Ampezzo geplant, und eventuell entschließt er sich, auch einen Kurzbesuch in Venedig zu machen, um den hübschen Paolo wiederzusehen, der nicht mehr ganz so jung, aber vielleicht noch hübscher ist. Doch nein: Maria Inês weiß nicht, kann nicht wissen, dass der nicht-mehr-junge Paolo mittlerweile in Rom lebt. Und einer ernsthaften Beschäftigung nachgeht. Möglicherweise ist er Anwalt, wohnt in einem schönen Apartment und hat eine Familie – eine Ehefrau, die blaues gelée exfoliante von Lancôme benutzt.
Maria Inês hat in der Nacht nur wenige Stunden geschlafen und die meiste Zeit damit verbracht, an den italienischen Winter zu denken, sich abermals an das Café Florian zu erinnern und es wieder zu vergessen. Sich an die Phase zu erinnern, in der sie bei Großtante Berenice wohnte und einem Gemälde von Whistler ähnelte. Aber auch an die stillen Tage, als die Großtante starb: eines natürlichen Todes. Ein Jahr nach Venedig und dem Florian und dem noch jungen hübschen Paolo.
Sie hatte Zeit, sich an die Entzugsklinik zu erinnern, in die Clarice schließlich ging, Jahre nach den Schnitten an den Handgelenken und mehreren vergeblichen Anstrengungen,die Drogen aufzugeben. Zwar hatte sich nach ihrem Selbstmordversuch tief in ihr etwas verändert, tiefer, als die beiden Schnitte mit dem Olfa-Messer reichten. Sie verließ den Mann, mit dem sie lebte und der sie rechtzeitig gefunden hatte, und sie verließ andere mögliche Männer, verließ auch die Stadt und andere mögliche Städte – doch die Drogen blieben, trotz einiger Unterbrechungen. Wie bei einer Ehe, in der es keine Liebe, keinen Sex, keine gegenseitige Achtung und nicht einmal mehr Freundschaft gibt, die aber durch die Ringe und den gemeinsamen Nachnamen fortdauert. Monatelang verschwanden sie aus Clarices Leben, dann kehrten sie zurück. Sie selbst fällte endlich die Entscheidung und wählte die Klinik aus, deren Innenhof mit hässlichen Skulpturen dekoriert war – in einer Ecke stand Schneewittchen mit den sieben Zwergen, daneben ein schrecklicher Reiher und weiter hinten ein das Auge beleidigender Riesenfrosch. Doch es gab auch hübsche Pflanzen. Das Gebirgsklima tut den Pflanzen für gewöhnlich gut. Die Patienten halfen bei der Pflege der Beete mit, es wuchsen sogar Hortensien. Als Maria Inês eines Nachmittags in die Klinik kam, um sie zu besuchen, saß Clarice auf einer frisch geweißten Holzbank. Es war kalt, und sie hatte sich ganz in eine Wolldecke gewickelt. Sie trank Tee, Zitronentee, den eine Krankenschwester zubereitet und in einem Plastikbecher gebracht hatte, wie sie sonst bei Kinderfesten benutzt werden. Clarice hob ein wenig den Kopf, blickte zu den Bergen und begrüßte ihre Schwester mit einem kurzen Hallo. Dann erkundigte sie sich nach ihrer Nichteund fragte, ob sie sie alle zusammen auf der Fazenda besuchen kämen, wenn sie aus der Klinik entlassen würde. Die Schnitte an ihren Handgelenken waren gut verheilt, bildeten bereits einen festen Bestandteil ihrer Anatomie, und Clarice fühlte sich, als hätte sie eine bestimmte Strecke ihres Weges zurückgelegt. Ihr wurde klar, dass sie sich Schritt um Schritt selbst überlebt hatte.
Es ist Winter in Cortina d’Ampezzo und Sommer auf der Fazenda, wo Maria Inês im Bett des Gästezimmers liegt und durch die Fenster mit den blauen Jalousien beobachtet, wie allmählich der Morgen geboren wird. Fiat lux . Es ist noch sehr früh, als sie schließlich aufsteht, ein Fenster öffnet und das tut, was sie als Kind immer getan hat, um direkt in den Garten zu gelangen, ohne den umständlichen Weg durch eine Unzahl von Türen und Räumen antreten zu müssen. Sie stützt sich rückwärts mit beiden Händen auf das Fensterbrett und stemmt sich hoch. Dann setzt sie sich auf das Fensterbrett, schwingt die Beine herum und springt hinunter auf den schmalen Zementweg, der außen am Haus entlangläuft und schon an vielen Stellen rissig ist.
In
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