Der Sommer der toten Puppen
ihn neben den Computer ihrer Mutter; und dann nahm sie den Stick von Ihnen, den mit den Aufzeichnungen Ihres Fernstudiums, und brachte ihn in das Zimmer von Marc. Und Marc, der die Fotos nicht wieder auf seinem Rechner haben wollte, gab den Stick Gina, ohne die Verwechslung zu bemerken. Aber Sie ... Sie haben einen Stick angeschlossen, der nicht für Sie bestimmt war. Und Sie haben die Fotos von Natàlia gesehen: Fotos Ihrer nackten Tochter, Fotos, die in Ihnen eine ganze Welt des Schreckens heraufbeschworen. Sie wussten, dass Marc damals gestanden hatte, das Video eines Schulkameraden ins Internet gestellt zu haben. Sie vertrauten ihm nicht, mochten ihn nicht. Schließlich waren Sie nicht einmal seine Mutter ...«
Glòria wurde rot. Sie sagte nichts, versuchte angestrengt, ruhig zu wirken. Ihre Hand krallte sich noch tiefer in die Sofalehne.
»Hast du die Fotos gesehen?«, fragte Enric. »Du hast mir nichts gesagt ...«
»Nein«, ging Héctor dazwischen. »Ihnen hat sie nichts gesagt. Sie wollte Marc auf eigene Faust bestrafen.«
Castells schoss vom Sofa auf.
»Ich dulde es nicht, dass Sie auch nur ein weiteres Wort sagen, Inspektor!« Aber in seinen Augen lag bereits Zweifel, und er drehte sich langsam zu seiner Frau, die reglos dasaß, wie ein Karnickel im plötzlichen Scheinwerferlicht eines Autos. »An dem Abend hast du nicht bei mir geschlafen ... Du hast dich zu Natàlia gelegt. Du sagtest, das Kind hätte Angst vor den Böllern.«
Es war ein knisternder Moment. Glòria zögerte ein paar Sekunden, damit ihre Stimme nicht zitterte.
»So ist es. Ich habe bei Natàlia geschlafen. Niemand wird das Gegenteil beweisen können.«
»Wissen Sie was?«, sagte Héctor. »Zum Teil verstehe ich Sie, Glòria. Es muss fürchterlich gewesen sein. Die Fotos zu sehen und nicht zu wissen, was man Ihrem Kind noch angetan hat. Das Schlimmste zu befürchten. Jeder Mutter wäre es so ergangen. Die Liebe einer Mutter ist mächtig. Mächtig und unerbittlich. Selbst die zahmsten Tiere greifen an, um ihre Jungen zu beschützen.«
Héctor sah das Zaudern in ihrem Blick. Aber Glòria war keine leichte Beute.
»Ich werde nicht weiter mit Ihnen sprechen, Herr Inspektor. Wenn mein Mann Sie nicht hinauswirft, tue ich es.«
Doch Enric schien die letzte Bemerkung seiner Frau nicht gehört zu haben.
»Am nächsten Tag mussten wir unterwegs tanken. Das hatte ich ganz vergessen. Fèlix fuhr, ich war nicht in der Lage, mich hinters Steuer zu setzen. Aber auf dem Hinweg war der Tank nicht so leer gewesen ... Ich hatte gar nicht mehr daran gedacht ...« Er sah seiner Frau in die Augen und flüsterte, ohne die Stimme zu heben: »Glòria, hast du ... Hast du meinen Sohn umgebracht, mein Kind?«
»Dein Kind!« Ihre Bitternis entlud sich in einem heiseren Schrei. »Und Natàlia, was ist sie? Was hättest du getan, wennich dir von den Fotos erzählt hätte? Das kann ich dir sagen. Nichts! Es hätte Entschuldigungen gegeben, Rechtfertigungen ... Dem Mädchen geht es doch gut, das war nur ein Scherz, die jungen Leute sind so ... Genau wie damals, als er das Video ins Internet gestellt hat: Er hat nun mal eine schwere Kindheit gehabt, seine Mutter hat ihn verlassen ...« Aus ihren Worten sprach ein abgrundtiefer Groll. »Und Natàlia? Die Jahre im Waisenhaus? Die zählen nicht? Diese Tochter hat dir doch nie etwas bedeutet!«
Glòria sah den Inspektor an. Sie versuchte ihm die Wahrheit begreiflich zu machen. Sie irgendwie zu rechtfertigen.
»Ich konnte ihm nicht verzeihen, Inspektor. Diesmal nicht. Wer weiß, was er meiner Kleinen noch angetan hätte.« Jetzt hielt sie nichts mehr zurück. »Ja, Enric, in der Johannisnacht habe ich dir gesagt, ich würde mich zu Natàlia legen. Aber kaum schliefst du, bin ich mit dem Wagen nach Barcelona gefahren. Und dass du schliefst, dafür hatte ich gesorgt, glaub mir. Ich wusste nicht genau, was ich wollte. Ich nehme an, ihn zur Rechenschaft ziehen und zwingen, das Haus zu verlassen. Ohne dass du es mitbekommst. Er sollte aus Natàlias und meinem Leben verschwinden. Als ich eintraf, kam Aleix gerade aus der Tür. Ich sah, wie das Licht in Marcs Zimmer anging und dann wieder aus. Kurz darauf sah ich ihn im Fenster sitzen. Ich ging rasch über die Straße und hinauf in die Dachkammer. Er saß noch dort, und in dem Moment konnte ich nicht anders. Ich bin zu ihm hin und habe ihn gestoßen ... Es war im Affekt ...«
Und den Aschenbecher im Fenster hat sie an seinen Platz gestellt, ganz automatisch, dachte
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