Der Sommer der Toten
dem Wagonwheel und lachten und trieben anzügliche, harmlose Scherze, vor Glück in Schweiß geratend. Auf Bänken unter den Bäumen saßen die Frauen, beaufsichtigten die Kinder und schwatzten und klatschten.
Das Dorf war frisch und neu. Der Friedhof war erst zur Hälfte belegt. Nur die Grabsteine wirkten alt. Es waren die ältesten Steine. Katie sah das Dorf, die Kirche, sah Schule und Friedhof, und konnte es nicht begreifen: es war eine Mischung aus Wirklichkeit und Erinnerung, aus Gegenwart und Vergangenheit. Sie fühlte sich betäubt und verständnislos, wie in einem Wirbel von Tatsache und Illusion. Ihr Verstand gehorchte ihr nicht mehr und wurde zum Schlachtfeld entgegengesetzter Kräfte.
»Na, wie geht’s denn Katrin«, begrüßte ein junger Mann sie. Sein Gesicht zierte eine phantastisch große Nase, darunter sah man ein gelblich lückenhaftes Gebiß.
»Ich heiße doch …«, setzte sie an, doch der unverschämte junge Mann im Overall ließ sich nicht beirren.
»Sieht heuer nach einer guten Ernte aus, wie?« Er blinzelte und grinste. »Alles wächst wie wild, drinnen und draußen.«
»Jede Wette, daß Ben es ihr ordentlich zeigt, und sie genau das mag«, witzelte ein arrogant aussehender Mann in mittleren Jahren. Er hatte eine schwarze Ärztetasche bei sich. »Stimmt’s, Ben? Kann sie es überhaupt mit dir aufnehmen?«
Er stieß ein lüsternes Lachen aus und klopfte Ben Jasper auf die Schulter.
»He, Doc, jetzt reicht’s aber«, sagte Ben, dessen Sichelnarbe sich weiß von der errötenden Haut abhob.
»Schon gut. War nur ein Scherz. Um diese Jahreszeit kann man dutzendweise Söhne zeugen.«
»Hehe«, krächzte die Großnase.
»Nur weil du schon einen Jungen hast, brauchst du dich nicht so aufspielen, Otto«, murmelte Ben. »Du bist wieder bei deinen ersten paar Morgen angelangt und noch immer ein Lohnarbeiter.«
»Ach komm, Ben«, meinte Otto darauf. »Es war nicht so gemeint. Wir wollen uns heute mal amüsieren -«
»Du warst der einzige von denen, die zurückversetzt werden sollten, der nicht den richtigen Glauben aufbrachte«, mahnte Doc Bates.
»Stimmt gar nicht. Ich hatte den Glauben. Und wie ich glaubte!« legte Otto Protest ein.
»Jaja, aber du hast nicht aufgehört zu handeln und zu schachern, Wolltest die Letzten Vierzig von Ben. Dazu Aggies Besitz …«
»Ach was, ich kann eben nicht aus meiner Haut heraus. Aber das heißt nicht, daß ich mich nach zwei Seiten absichern wollte, daß ich beides haben wollte …«
Die Männer lachten. Der gute Otto würde sich wohl nie ändern.
Die Tür des neben der Kirche gelegenen Pfarrhauses schwang auf, und ein stämmiger, triumphierender Geistlicher mit kaum angegrautem Haar trat hervor, umgeben von Ministranten. Auf dem prächtigen, golden und silbern bestickten Gewand prangte ein Ährenkreuz. In der Kirche ließ Christ Gorman die Glocken der Freude und des Wunders ertönen. Der Geistliche trat hinaus auf die Wiese, und die Menschen kamen aus allen Richtungen und scharten sich um ihn.
Der junge Mann mit der Wangennarbe nahm die Hand der jungen Frau, die er Katrin nannte, und zog sie mit sich.
»Wir haben es erreicht«, verkündete der Priester, nachdem die Schar der Gläubigen verstummt war. »Als Ben sein Einverständnis gab, als Handlanger unseres gemeinsamen Willens zu fungieren, hatte ich eigentlich keinerlei Zweifel mehr. Es fiel ihm gewiß nicht leicht, die erste im Einklang mit den alten Gebräuchen zu opfern. Alle anderen sind zurückgekehrt. Sie aber wird nie wiederkehren. Es war ein schwerer Entschluß. Alle sollen Ben dafür danken.«
Sie hörte, wie die Menschen Ben hochleben ließen. In ihrem Kopf drehte sich alles, sie nahm kaum wahr, was jetzt geschah und was bereits geschehen war.
»Ben hätte einen Augenblick lang fast die Nerven verloren«, fühlte Doc Bates sich gedrängt zu betonen, »aber er überwand sich.«
»Nun denn«, hörte man Ben murmeln, »sie wurde geopfert, aber nicht richtig getötet, wenn ihr wißt, was ich meine. Diese Vögel …«
»Aber du wußtest um ihre Angst, Ben«, sagte Mauslocher, »und wir mußten uns auf dich verlassen können.«
»Sicherlich« – »Er hat es getan« – »Jede Wette«, riefen die Menschen überglücklich, »und wir waren das Saatgut.«
»Die Leiber der Lebenden und der Toten«, intonierte der Geistliche, »vereint, wie ich immer predigte, und dann, wie ich immer predigte, erneuert.«
Er hielt inne und sah die junge Frau neben Ben Jasper an. Sein Lächeln war leicht
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